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Im Weltalter der Weltnacht
„Seinsvergessenheit“ statt „Antisemitismus“: Martin Heideggers „Schwarze Hefte IV“ und eine Tagung des Scherbengerichts
Wolfgang Müller

Bereits die Lektüre der im Frühjahr 2014 veröffentlichten drei Bände von Martin Heideggers „Schwarzen Heften“ hat den jugendlichen Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel völlig aus der Fassung gebracht (JF 18/14). Eine Hysterie, die bei ihm noch Raum ließ für psychotische Radikalisierungen, wie sein promptes Rezensionsecho auf den nun erschienenen vierten Band, die Edition des „Gedankentagebuchs“ für den Zeitraum von 1942 bis 1948, offenbart (Die Welt vom 21. März 2015).

In diesen Notaten, so behauptet Gabriel, „wimmelt“ es von Begriffen wie „Gaskammer“, „Kz“, „Hinmorden“. Folglich können sie nichts anderes sein als ein „Zerrspiegel der deutschen Geschichte, aus dem uns die Maske eines unversöhnlichen Nazidenkens angrinst“. „Widerwärtig“ sei das alles, am meisten abstoßend natürlich Heideggers „lang gehegter Antisemitismus“. In derart verhunztem Kolportagedeutsch geht es von Absatz zu Absatz fort, um dem „Seynsdenker“, der angeblich nicht einmal vor der „Rechtfertigung der Konzentrationslager“ zurückgeschreckt sei, zu attestieren, er bewohne ein „Wahnsystem“, lebe in einem „Wahnpanorama“.

Heideggers Einlassungen zur „Judenfrage“ sind marginal

Thomas Assheuer und dessen Mitstreiter in der Zeit-Redaktion hauen in dieselbe Kerbe wie Gabriel und versuchen seit Wochen, die feuilletonistische Skandalinszenierung zum „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ der „Schwarzen Hefte“ zu wiederholen, die sie 2014 aufführten. Aber auch diesmal täuscht der Lärm nur Nichtleser. Wer sich stattdessen die Mühe macht, die Anwürfe an 500 Textseiten zu überprüfen, stellt wie bei den vorigen Bänden erstaunt fest, daß Einlassungen zur „Judenfrage“ marginal sind. In diesem Band finden sich dazu unter den 17.500 Zeilen kümmerliche 30 Zeilen, das sind kaum 0,2 Prozent des Textkorpus. Ebensowenig „wimmelt“ es von Signalwörtern wie „Gaskammer“ oder „Kz“. Das Gegenteil ist richtig: man muß sie mit der Lupe suchen. Und bei diesen seltenen Erwähnungen ist Heideggers Position stets eindeutig: Schreckliches, Greuelhaftes, Verbrecherisches habe in den Konzentrationslagern stattgefunden. „Widerwärtig“ ist mithin nur der Denunziant Gabriel, der diese Begriffe aus ihrem Kontext löst, um sie für einen Schnappschuß zu arrangieren, auf dem Heidegger uns mit der „Maske unversöhnlichen Nazidenkens angrinst“.

Wenn sich der Philosoph an den Juden mithin deutlich desinteressiert zeigt, wovon handeln dann seine Eintragungen, die zwischen Stalingrad und Währungsreform entstanden? Überwiegend von Heideggers Lebensthema, der Seinsvergessenheit. Bei Johann Gottlieb Fichte hieß dies Phänomen „Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit“, im George-Kreis „Entwürdigung aller hohen Menschlichkeit“, bei Theodor W. Adorno schlicht „falsches Leben“.

Im Unterschied aber zu den Heerscharen von Dichtern und Denkern, die seit der Goethezeit ihre kulturkritischen Klagelieder gegen die kapitalistisch geformte „Moderne“, gegen Entfremdung, Entzweiung, Entzauberung, gegen die Verameisung des Menschen anstimmten, hält sich Heidegger lieber an Ernst Bloch, dessen „Erbschaft dieser Zeit“ 1935 mit dem markanten ersten Satz anhebt: „Hier wird breit gesehen.“ Darum führt seine Krisendiagnostik nicht wie üblich nur zu den Ursprüngen des technisch-industriellen Massenzeitalters zurück, sondern tut generös 2.500 Jahre abendländischer Entwicklung als Verfallsgeschichte ab. Der Weg in die „Irrnis“, in die Entfernung von der „Eigentlichkeit“ und „Wesensfülle“ des Daseins, beginnt in Heideggers Kosmos daher bereits früh nach dem Tod des Sokrates.

Der in den „Schwarzen Heften“ wieder und wieder beklagte „Irrtum“ des politischen Engagements als Freiburger Rektor während der „nationalen Erhebung“ 1933/34 lag folglich im Glauben, der Nationalsozialismus werde die in der Neuzeit lediglich forcierte „Verfallenheit an das ‘Man’“ inhumaner Existenzweisen, deren „äußerste Seinsverlorenheit“, schlagartig beenden. Ausschließlich im Rahmen dieses manichäisch determinierten Geschichtsbildes weist Heidegger den Juden, wie vorzüglich den Angelsachsen, Germanen und Romanen, ihren Anteil zu an den kapitalistischen „Machenschaften“, der „Diktatur der Vernutzung des Seienden“, der Verrechnung auch des „Rohstoffes Mensch“ zur „technischen Herstellung der unbedingten Möglichkeit eines Herstellens von allem“. Europas und Amerikas Juden, so lautete ein von Heidegger adaptierter Topos der Modernekritik der Zwischenkriegszeit, halfen mit, die Welt zum seinsvergessenen „Betrieb“ zu deformieren.

„Tage der Schmach und des Schmerzes“ im Mai 1945

Nur inquisitorische Eiferer, bar jedes geschichtlichen Bewußtseins, wie Gabriel oder die bisher weder als Heidegger-Kennerin geschweige denn als zeitgeschichtlich versierte Philosophiehistorikerin sonderlich aufgefallene Marion Heinz (Universität Siegen), die Ende April zu einem als „Tagung“ firmierenden Tribunal zu Heideggers „Antisemitismus“ im „Kontext der zeitgenössischen Ideologien“ einlud, scheuen trotzdem nicht vor jenem primitiven Reduktionismus zurück, der sich im Gekeife über „völkische“, judenfeindliche „Vorurteile“, „Ressentiments“, „Stereotype“ artikuliert.

Es wäre darum sinnlos, solche Tröpfe etwa auf Publikationen der American Jewish Historical Society hinzuweisen. Bis 1917, als das angelsächsische Judentum erstmals ökonomische in politische Macht umsetzte und sich mit der Balfour-Deklaration die jüdische „Heimstatt“ in Palästina als Realität abzeichnete, hatte diese Historiker-Gesellschaft akribisch den enorm starken Anteil ihres Volkes am Aufstieg der Vereinigten Staaten dokumentiert – seit dem Sommer 1654, als mit Jacob Barsimson der erste Jude New York erreichte.

Entsprechend dieser zwar nicht unbedeutenden, aber keineswegs zentralen Rolle jüdischer Organisationen in der internationalen Politik während des „Weltbürgerkriegs“ stehen nicht sie, sondern „Amerika und Rußland“ im Mittelpunkt von Heideggers Nachkriegsreflexionen. Daß sie mit ihrem Sieg über das Dritte Reich nunmehr die „Weltdemokratie des großen ‘Man’“ ohne Widerstand planetarisch organisieren könnten, glaubt der im Mai 1945, in den „Tagen der Schmach und des Schmerzes“, am „heimatlichen Ort des Ursprungs“, in Meßkirch weilende Philosoph indes nicht: „Die Zeit der Deutschen ist noch nicht abgelaufen.“ Es sei denn, die „törichten, verstörten und geschundenen Deutschen“ ließen sich die „Herabwürdigung zu Heloten“ gefallen und sich „umerziehen von Newyork“ – und „Rom“, wie der antichristliche Heideg-ger warnt, der die Scheinblüte einer katholisch inspirierten Restauration des „Abendlandes“ ahnte. Fördere hingegen der nur „in den Mitteln andersartige Terror“ einer von „christlichen Phrasen und demokratischen Tiraden“ durchsetzten Umerziehung den deutschen Unwillen zur „Rückkehr in unser Wesen“, höre das „Herz der Völker“ auf zu schlagen und das „Weltalter der Weltnacht“ breche an.

Nicht um das „Geschick“ der Juden, sondern um die Zukunft der Menschheit und den Beitrag, den dazu die in zwei Weltkriegen niedergeworfenen Deutschen zu leisten hätten, kreisen die Betrachtungen der „Schwarzen Hefte“. Der von Peter Trawny, dem schon handwerklich unfähigen Herausgeber der vier Bände, befeuerte, auf Heideggers vermeintlichen „Antisemitismus“ verengte Medienrummel hat von diesen Hauptthemen der „Hefte“ unentwegt abgelenkt.

Das ersparte dem Feuilleton und der Fachwelt freilich die beunruhigende Frage nach deren Aktualität, die allein schon auf dem schmalen Segment der Hochschulpolitik offen zutage liegt, wenn Heidegger die „Erfolgjägerei“ der nach 1945 restrukturierten Universitäten verhöhnt, die wie Kurorte gegeneinander konkurrierten, während sich in den Hörsälen die „Angst vor dem Denken“ ausbreite. Bis zu den ökonomisierten Bologna-Hochschulen unter der Kuratel der PC-Denkverbote, mit ihren enthemmten „Exzellenz-Wettbewerben“ und den Punktejagden im Modul-Dschungel, ist es da nicht mehr weit.

www.uni-siegen.de

Peter Trawny (Hrsg.): Martin Heidegger. Gesamtausgabe. 4 Abteilungen / Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948). Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt/M. 2015, gebunden, 286 Seiten, 44 Euro