© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Über die Schönhauser Allee zieht eine Demonstration mit dem Banner „Gegen den Zwang zur Lohnarbeit“. Aus den Reihen tönt der Chorus „Leute laßt die Arbeit sein / reiht euch in die Demo ein!“ Längst angekommen ist die Botschaft beim Geldtransportunternehmen Prosegur. Komme ich doch gerade von der Bankfiliale, deren Automaten kein Geld mehr ausgeben, weil sie vom Prosegur-Streik betroffen ist. Verblaßt hingegen scheint die Losung aus der Arbeiterhymne Georg Herweghs: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“

Tage später will ich mit dem Zug nach München fahren und frage mich: Wo ist die Facebook-Gruppe „Zieht Weselsky aus dem Verkehr!“? In der einstigen „Stadt der Bewegung“, wo endlich ein NS-Dokumentationszentrum eingeweiht wurde, irre ich bei strömendem Regen über den tristen, menschenleeren Königsplatz – und komme vom Regen in die Traufe. Denn der weiße Kubus, in den ich flüchte und in dem reger Betrieb herrscht, ist ausgerechnet das NS-Dokumentationszentrum. Hier herrscht – viel Bewegung.

Auf dem Rückweg, vor dem Eingang des Lenbachhauses, kommt gerade ein Mitarbeiter der Wertransportfirma Prosegur heraus und macht am Abfallkorb halt. An dem einen Arm die volle Kasse, holt er mit dem anderen eine Flasche ans Tageslicht, die er eingehend darauf absucht, ob sie ein Pfandsiegel trägt. Der Fahrer im Transporter hupt ungeduldig, der trödelnde Kollege – offenbar ein Migrant – verteidigt in gebrochenem Deutsch seinen Anspruch auf diesen zusätzlichen Geldgewinn.

Natürlich ist diese Pfandflaschensuche „diskriminierend“. Nachts am U-Bahnhof sehe ich einen heruntergekommenen Typen manisch in den Müllkörben nach Pfandflaschen suchen – das halbe Dutzend abseits stehender, geleerter Bierflaschen an den Sitzbänken übersieht er glatt. Wiederholt registriere ich dieses Phänomen von Tunnelblick. Tage später im Café spricht mich ein Dokumentarfilmer an, der gerade einen Film über die globale Umweltverschmutzung dreht. Er findet den staatlichen Zwang zum Pfandgut ideal, dies gebe ihm die Möglichkeit, soziales Engagement zu zeigen, indem er die Pfandflaschen neben den Abfallkörben hinstellt. Ich wage nicht zu lachen, und denke an die zeitraubenden Schlangen vor den Pfandautomaten im Supermarkt: Das hier kumulierte Produktivitätsdefizit müßte von der Volkswirtschaft untersucht werden. Es erinnert mich an die Losung auf der Demo: „Wir haben Zeit – wir sind viele.“