© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Den neuen Eisernen Vorhang mit Nadelstichen durchlöchern
Die Schule der Liebenden: Teodor Currentzis dirigiert Mozarts rätselvolle Oper „Così fan tutte“ als musikalische Kommunion
Jens Knorr

Die schlechte Nachricht zuerst: Nahe dem Dorf Kutschino im Gebiet Perm liegt das einzige noch erhaltene Gulag-Lager auf sowjetischem Territorium, das Lager Perm-36. Hier waren auch deutsche Kriegsgefangene inhaftiert. Bisher wurden Museum und Gedenkstätte von der Menschenrechtsorganisation Memorial betrieben, die nun aber aus der Verwaltung hinausgedrängt worden ist. Der russische Staat hat beides übernommen, die Umwidmung in einen „Gedenkkomplex politischer Repressionen“ ist im Gange. Unter dem Vorwand, Gedenken ausweiten zu wollen, wird es dem Geist der Zeiten untergeordnet werden, der, wir wissen es von Mephisto und als Deutsche ohnehin, im Grund der Herren eigner Geist ist.

Und nun die gute Nachricht: Die zweite Oper des Permer Da-Ponte-Zyklus ist erschienen, „Così fan tutte ossia La scuola degli amanti“. Kaum eine Neuerscheinung auf dem Klassikmarkt war so heftig wie bänglich erwartet worden wie diese, haben doch Teodor Currentzis und seine Music Aeterna die hohen Maßstäbe, an denen sie zu messen sein würden, mit ihrer Einspielung des „Figaro“ selbst gesetzt (JF 42/14). Und wie diese, so konfrontiert auch jene den Hörer, der sich dünkte, die Noten über weite Strecken zu kennen, mit einem ganz neuen Stück. Doch fühlt er auf seinem Gang durch die zur Terra incognita rückverwandelte Partitur in jedem Moment sich von den Figuren sanft bei der Hand genommen und entfesselt geführt.

Oder sind es die Interpreten ihrer Figuren, die ihm vorausgehen und ihm doch immer nahe bleiben? Die vor ihm Abschied von der Kindheit nehmen, Schmerz der ersten Liebe und Trennungsschmerz erleiden, ihre alten an die neuen Lieben verraten, zu neuen Ufern ablegen und an den alten festmachen, die nicht mehr die alten sind, den Boden unter den Füßen verlieren und den freien Fall gewinnen – aufgefangen allein von der Musik, wie jetzt ihr Hörer?

„Così fan tutte“ ist Mozarts zynischste und zärtlichste Oper, die rätselvollste vor allen, immer wieder umgearbeitet und umgetitelt, bis sie im 20. Jahrhundert als Meisterwerk der Aufklärung über die Aufklärung erkannt wurde. Adorno und Horkheimer hätten mit demselben Recht, mit dem sie auf de Sade rekurriert haben, auch auf Mozart rekurrieren können, wäre ihnen aufgegangen, daß „Così“ weit mehr als nur eine symmetrische Adelskomödie aus der Endzeit des Ancien régime ist. Aber da Ponte und Mozart treiben eben nicht nur ihr böses Spiel mit vertrackter erotisch-sexueller Versuchsanordnung, zu der sich in der Tat bei de Sade ganz ähnliche finden lassen. Sie lehren uns auch, wie im Untertitel verheißen, die Schule der Liebenden.

Auskunft über heutige

Umbrüche in Rußland

Und die läutet die Ouvertüre unmißverständlich ein, mit Orchestertuttis wie Stromschläge, mit Einsätzen der Streicher wie Nadelstiche, mit einzig richtigen irrwitzigen Tempi, nicht nur die schnellen, welche durchzusetzen viele Dirigenten gar nicht erst versuchen. Sie werden diesen einen Tag und ihr ganzes Leben lang um ihr Leben laufen und innehalten nur, um zu verschnaufen, die sechs Figuren des Spiels.

Man möchte ihnen in den Arm fallen, damit sie ihre Händel nicht weitertreiben, und man möchte doch auch wissen, wohin ihre Händel sie weitertreiben. Man möchte das altklug daherplappernde Coninuo zum Schweigen bringen, und man möchte doch auch hören, welchen Senf es dazuzugeben sich anmaßt. Man möchte Fiordiligi, Dorabella und Alfonso flehentlich bitten, sich selber im „Winde“-Terzettino zuzuhören, unter Currentzis ein Requiem auf den Verlust aller Unschuld und Jugend, da Kindheit wahrhaftig hinter dem musikalischen Horizont versinkt. Das ist, nach Peter Gülkes schönem Wort, so weit über die unmittelbare Veranlassung hinausgesungen, daß die Figuren nicht wissen, wieviel und welche Wahrheit sie hereinholen. Aber die phänomenale Simone Kermes, Malena Ernman und Konstantin Wolff singen es ihren Figuren vor.

Überhaupt folgen die Sänger, außer den vorgenannten Kenneth Tarver als Ferrando, Christopher Maltman als Guglielmo und Anna Kasyan als Despina, jeder kleinsten musikalischen Vorgabe und wählen aus den gestalterischen Möglichkeiten nicht nach musealen, sondern aktuellen interpretatorischen Erfordernissen aus. Wie jeder sich die Musik des andern aneignet, sie ihm enteignet, um selber enteignet zu werden, wie sie Affirmation und Negation, Echtheit und Vorstellung von Gefühlen, Natürlichkeit und Theatralik, Expressivität und Konvention zusammenbringen, oftmals in einer Nummer, einer Phrase, einer Geste, und das alles mit Witz, wobei dem Hörer nur allzuoft das Lachen im Halse steckenbleibt – ist schlichtweg modellhaft und sollte modellbildend wirken.

Soweit die gute Nachricht aus Perm. Aber was hat sie mit der schlechten gemein, von zeitlicher und örtlicher Koinzidenz einmal abgesehen? Doch kann von Zeit und Ort eines Kunstwerks überhaupt abgesehen werden? Was wäre Mahler ohne Wien, Klemperer ohne Berlin und London, Busch ohne Dresden und Glyndebourne, Dudamel ohne Caracas? Was wäre Teodor Currentzis ohne Perm?

Genau behört, gibt diese „Così“ Auskunft über die Umbrüche in Rußland heute, weil sie diese, soweit sie sich in den russischen Seelen niederschlagen, vor der Folie dieses Stückes, das nicht mehr ganz Komödienform des 18. und noch nicht ganz Beziehungsdrama des 19. Jahrhunderts ist, auszudrücken vermag, übrigens wohl im Gegensatz zu der neckischen szenischen Umsetzung am Permer Opernhaus, soweit die Bilder und Videoschnipsel, die im Internet abrufbar sind, beweiskräftig sind. So mag sie ihren Teil dazu beitragen, den neuen Eisernen Vorhang zu durchlöchern, den neoliberale Oligarchien von östlicher wie von westlicher Seite zwischen Deutschland und Rußland, zwischen Deutschen und Russen, von ihren Lakaien aus dem medial-politischen Komplex haben ziehen lassen.

Für seine Interpretation gäbe es Verbotsgründe

„Rußland ist und war eine sehr wichtige Welt für Künstler, denn sie ist wandelbar“, sagt der griechische Rußland-Versteher Currentzis: „Man muß verstehen, daß hier vieles möglich ist, was in anderen westeuropäischen Städten durch den Kapitalismus niemals möglich gewesen wäre. Und wenn die Bevölkerung selbst das System kreiert und nicht das System die Bevölkerung, dann ist das historisch gesehen etwas sehr Positives, und wenn ich das in Rußland vorfinde, dann bleibe ich noch sehr lange in einer russischen Stadt. Das ist mein Credo.“ Ihm wäre entgegenzuhalten, daß es für seine Mozart-Interpretation durchaus Verbotsgründe gäbe – wenn denn russische Zensurbehörden Noten entschlüsseln könnten.

Empathie ist Wehrkraftzersetzung! Empathie ist Kampfkraft von innen! Machst du’s, wie’s alle machen, oder lernst du Empathie für denjenigen, den du zum Objekt erniedrigst, und für denjenigen, der dich zum Objekt erniedrigt? Vor diese Alternative hat im Jahre 2005 David Foster Wallace in seiner berühmt gewordenen Abschlußrede die Absolventen des Kenyon College gestellt. Solange solche „Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme, vorgebracht bei einem wichtigen Anlaß“ als gutmenschlich, ineffizient und also verschwendet diffamiert werden dürfen, solange werden die Offiziere Ferrando und Guglielmo in den Krieg um die Frauen ziehen, der sie um die Frauen bringt. Solange werden Männer zu Veteranen, ohne daß sie je Soldaten waren. So lange wird Gedenken an Repressionen selektiv bleiben, was bedeutet, sie allseits auf andere Art nur fortzusetzen.

Und solange das alles so bleibt, schreibt Mozart, ein viel zu wenig bekannter zeitgenössischer Komponist aus dem fernen Perm, unsere Stücke. Cur-rentzis und die Seinen verschaffen ihm Gehör.

W. A. Mozart Così fan tutte Sony Classical 2014 www.teodor-currentzis.com