© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Woher wir stammen
Sprachatlas: Wissenschaftler sagen deutschen Dialekten ihr Aussterben voraus / In Großstädten wird „Kiezdeutsch“ gesprochen
Thomas Paulwitz

In Deutschland sterben die Dialekte allmählich aus – doch zugleich ist die Neugier für Mundart und Alltagssprache riesig. Zu diesem widersprüchlichen Ergebnis kommt der Sprachatlas „Grüezi, Moin, Servus“, der im Internet seit Anfang des Monats für Furore sorgt. Der Einfall stammt vom Schweizer Tages-Anzeiger, der für dieses Projekt Sprachwissenschaftler aus Salzburg, Lüttich und Marburg gewinnen konnte. Im Zusammenwirken mit Spiegel Online ist die Breitenwirkung gewaltig.

Damit verbunden war nämlich eine Befragung: „Sagen Sie uns, wie Sie sprechen, und wir sagen Ihnen, woher Sie stammen.“ Dieses eingängig formulierte Versprechen zog weit mehr als eine Million Teilnehmer an, die sich durch den Fragebogen klickten. Wie ist aber das Paradoxon des enormen Interesses an der Alltagssprache bei gleichzeitigem Verschwinden der Dialekte zu erklären?

Der Salzburger Germanist Stephan Elspaß wirkt bei der Aktion mit. Er sagt den schleichenden Tod der Dialekte voraus: „Selbst in bisher ‘dialektresistenten’ Gebieten Bayerns oder Baden-Württembergs übernimmt die jüngste Generation heute nicht mehr die Dialekte ihrer Eltern.“ Als Ursache gibt er an, daß erstens „politische Grenzen immer stärker sprachtrennend wirken“. Zweitens würden weniger gebräuchliche Wörter zugunsten einheitlicher Benennungen weiter zurückgedrängt.

Die Dialekte schrumpfen auf diese Weise zu örtlichen Varianten des Hochdeutschen zusammen. Gleichzeitig entstehen neue Regiolekte, wie etwa die in Großstädten entstandene Pidginsprache „Kiezdeutsch“. Manche Sprachwissenschaftlern feiern es gar als neuen deutschen Dialekt, obwohl es sich lediglich um rudimentäres Hochdeutsch handelt.

Am Ende der Befragung zeigt der Sprachatlas mit erstaunlich hoher Treffsicherheit in einer Karte an, woher der Befragte stammt. Ungewöhnlich sind dabei die anheimelnden Ortsnamen östlich des angezeigten deutschen Sprachraums. In der Republik Polen und in den baltischen Staaten etwa ist von Allenstein, Hohensalza, Breslau und von Zintenhof (Estland), Schwanenburg (Lettland), Georgenburg (Litauen) die Rede, sogar ohne die Ortsnamen in der Staatssprache. So erscheinen die Beziehungen jenseits von Oder und Neiße dem unbefangenen Betrachter plötzlich als gar nicht mehr so fern, obwohl dort längst nicht nur die Dialekte, sondern auch die deutsche Sprache weitgehend verschwunden sind. Die Sprache ist eben auch das Gedächtnis eines Volkes.