© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

„Das geht jeden Tag so ...“
Illegale Einwanderung: Viele Afrikaner nutzen die Bahn, um von Italien nach Deutschland zu kommen. JF-Reporter Hinrich Rohbohm fuhr mit
Hinrich Rohbohm

Gedankenverloren starrt Merhawi S. auf den Vorplatz der „Stazione Termini“, des Hauptbahnhofs in Italiens Hauptstadt Rom. Er lehnt an einem Pfeiler des Bahnhofsgebäudes und gönnt sich einen großen Schluck aus einer kleinen Plastikwasserflasche. Seit zwei Wochen ist er in der italienischen Hauptstadt. Vier Monate ist er bereits unterwegs gewesen. Weg aus seiner Heimat Eritrea, durch die staubtrockene und glühend heiße Sahara, bis an die Küste Libyens.

Er spricht von Hunger, Durst und Überfällen, von seiner dramatischen Überfahrt auf einem verrosteten, kaum seetüchtigen und veralteten Boot. Merhawi schmunzelt. „In der Sahara waren wir froh über jeden Tropfen Wasser und im Schiff hatten wir zuviel davon“, beschreibt er mit Humor die dramatischen Stunden, in denen er mit seinen zwei ihn begleitenden Freunden gemeinsam mit etwa 80 weiteren Insassen verzweifelt versuchte, das eingedrungene Naß abzuschöpfen, um nicht zu kentern. Die drei gelangten über die vor der afrikanischen Küste befindliche italienische Mittelmeerinsel Lampedusa nach Sizilien, von dort nach Rom.

Tausende weitere illegale Einwanderer schlagen ebenfalls den Weg über das Mittelmeer ein. Immer mehr strömen vom Schwarzen Kontinent nach Europa; tatsächliche Flüchtlinge ebenso wie Nichtverfolgte, die vom Wohlstand Europas profitieren wollen. Haben sie das italienische Festland erreicht, ist Rom oftmals ihr zentraler Anlaufpunkt.

Nachts, wenn die Geschäfte am Bahnhof Termini schließen, schlagen einige von ihnen hier ihr Nachtlager auf. Sie breiten Pappe auf der Straße vor den Schaufenstern der Läden aus, benutzen sie als Schlafunterlage, während sie sich in dünne Decken einwickeln. Die Temperaturen lassen das inzwischen zu. Es ist ein warmer Tag, der zu Ende geht. Blauer Himmel, 29 Grad, in der Nacht sinkt die Temperatur auf lediglich 15 Grad ab.

Ehe die Geschäfte am nächsten Morgen öffnen, ist von den Afrikanern bereits nichts mehr zu sehen. „Jetzt, wo es wärmer wird, übernachten wie immer öfter im Freien“, erzählt Merhawi. Kaum einer möchte in das zentrale Aufnahmelager außerhalb der Stadt. „Die hygienischen Zustände dort sind sehr schlecht und der Weg ins Zentrum mühsam und weit“, meint der 34jährige, der sich am Bahnhof zwei lukrative Einnahmequellen erschlossen hat.

Er hatte beobachtet, wie italienisches Bahnpersonal Touristen darauf anspricht, ob sie Hilfe benötigten und wie Ausländer, aber auch Italiener diese Methode für sich nutzten, um gegen ein kleines Trinkgeld den Ortsunkundigen weiterzuhelfen. „Pro Auskunft bekomme ich zwei Euro“, sagt Merhawi, der nicht nur Englisch, sondern auch Italienisch spricht. Ein Umstand, der ihm ein weiteres Einkommen beschert.

„Viele meiner Landsleute können sich hier nicht verständigen. Ich helfe ihnen weiter.“ Das Geld, das er für die Leistung bekommt, besorgen sich seine „Klienten“ zumeist durch Drogenverkauf oder als fliegende Händler vor Touristenattraktionen wie dem Kolosseum. Er besorge ihnen Mobiltelefone und Bahntickets für die Weiterfahrt nach Mittel- und Nordeuropa. Denn Rom ist inzwischen für viele Einwanderer zu einem Knotenpunkt auf der Asylroute vom Mittelmeer nach Mitteleuropa geworden. Längst hat sich hier im Umfeld des Hauptbahnhofs eine Infrastruktur von Schleuserbüros und Helfern entwickelt, die den illegalen Migranten die Weiterreise in den Norden erleichtert. Daß sie dort angenehmere Lebensbedingungen vorfinden und höhere Geldzuwendungen erhalten, ist für sie kein Geheimnis. Sie sind per Internet und Mobiltelefon bestens vernetzt, tauschen sich längst über die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Aufnahmeländer aus. Auch darüber, wo gerade Kontrollen in den Zügen stattfinden.

„Frankreich ist momentan nicht zu empfehlen“, weiß Merhawi. Die Sozialleistungen seien geringer als in Deutschland oder den skandinavischen Ländern, die Paßkontrollen der französischen Behörden in jüngster Zeit strenger.

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Der Bahnknotenpunkt Bologna ist eine Sammelstelle für zahlreiche Migranten, die über Italien nach Deutschland gelangen wollen. Von hier aus starten die Eurocity-Züge mit dem Zielbahnhof München. Es ist früher Nachmittag. Vor den Fahrkartenschaltern haben sich lange Warteschlangen gebildet. In Italien ist das nichts Ungewöhnliches. Unter den Wartenden sind nur wenige Schwarze zu sehen. Aber: „Ich schätze, wir verkaufen pro Tag mindestens 50 Tickets an Migranten“, verrät eine Fahrkartenverkäuferin der JUNGEN FREIHEIT. Nur wenige der zumeist aus Afrika stammenden Einwanderer fahren ohne Fahrkarte in den Norden. Die Preise sind erschwinglich, und das Geld dafür durch Gelegenheitsjobs oder Schwarzhandel schnell verdient.

Manche weichen auch auf die zwar unkomfortableren, dafür aber noch günstigeren und weniger kontrollierten Regionalzüge aus. Eine Fahrt von Bologna nach Verona kostet dann nur 9,50 Euro. Ein Farbiger mit beigefarbener Schirmmütze und schwarz-orange gestreiftem Hemd besteigt den Zug. Der Mann wirkt nervös. Er setzt sich nicht ins Abteil, sondern nimmt stattdessen auf einem der Klappsitze im Gang Platz. Immer wieder wandert sein Blick unruhig zur Tür, doch er kann nicht den ganzen Wagen einsehen. Er sucht den Blickkontakt. „Police?“ fragt er schließlich leise. „No Police.“

Der Mann stellt sich als Chris vor. Chris kommt aus Nigeria. Sein Ziel: Deutschland. Die Worte „No Police“ lassen ihn aufatmen, er beruhigt sich. Schließlich nickt er sogar ein. Doch das Pfeifen der Lok bei der Einfahrt in den Bahnhof von San Felice läßt ihn erschrocken hochfahren und erneut zum Nervenbündel werden. Als kurz vor der Haltestation von Nogara die Schaffnerin zur Kartenkontrolle erscheint, springt Chris auf, eilt zügigen Schrittes durch die blaue Schwingtür, durchquert einige Waggons, bis er außer Sichtweite ist.

Wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen. Die Schaffnerin kontrolliert eher stichprobenartig als gründlich. Bei einigen Schwarzen geht sie einfach weiter, ohne nach dem Fahrschein zu fragen.

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In der Ankunftshalle des Bahnhofs Porta Nuova von Verona geht es geschäftig zu. Vor den Anzeigetafeln hat sich eine Menschentraube gebildet. Mehrere dunkelhäutige Männer starren auf die Abfahrtzeiten der Züge. Einer von ihnen trägt eine beigefarbene Schirmmütze und ein schwarz-orange gestreiftes Hemd. Chris. Wie ist er der heiklen Situation im Zug entkommen? Chris ziert sich, will zunächst nicht reden. Dann aber grinst er breit und verrät seinen simplen Trick. „Ich bin einfach ganz an das Ende des Zuges gelaufen und an der Haltestation ausgestiegen.“ Dann sei er von außen wieder nach vorn gelaufen und in dem bereits kontrollierten Abschnitt wieder eingestiegen. Das habe schon des öfteren funktioniert, meint er.

Doch die meisten der illegalen Einwanderer kaufen sich eine Fahrkarte, wollen nicht durch Schwarzfahren auffallen. Vielmehr sind es die Paßkontrollen der Polizei, die sie fürchten. Oftmals stehen sie zu zweit oder dritt zusammen. Das Reisen in größeren Gruppen vermeiden sie. Sie decken sich mit Wasser, Schokolade und Keksen ein. Kein Ladendiebstahl, alles wird bezahlt. Nicht auffallen, lautet die Devise. Ein Einzelner wird zumeist vorgeschickt, um die Fahrkarten zu besorgen. Auch auf dem Bahnsteig rotten sich die Kleingruppen nicht groß zusammen, sondern verteilen sich auf verschiedene Sitzbänke.

Ebenso verhält es sich im EC 188 nach München. Auffällig ist hier: Viele der überwiegend männlichen Afrikaner setzen sich gezielt in die Nähe von Frauen, versuchen während der Fahrt ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Wie lange es denn dauere, bis der Zug Innsbruck erreicht, fragt ein junger, kräftig gebauter Afrikaner mit rot-weißem Karohemd eine etwa 30jährige Deutsche. „Drei Stunden“, entgegnet die blonde Frau kühl. Ende der Unterhaltung. Wenige Minuten später der zweite Versuch. „Where do you come from?“ „Germany“. Ende des Dialogs. Die Frau läßt den Mann abblitzen.

Wenige Reihen weiter hat ein anderer mehr Glück. Er hatte sich der dunkelhaarigen Frau um die Fünfzig bereits auf dem Bahnsteig in Verona vorgestellt. Jetzt, kurz vor Ankunft in Trient, sitzen sich die beiden bereits vertraut und händchenhaltend gegenüber.

Plötzlich – der Zug hat Trient erst vor wenigen Minuten verlassen – wird es unruhig im Abteil. Sämtliche Afrikaner springen wie von der Tarantel gestochen von ihren Plätzen auf, rennen auf den Gang zu. Einer schließt sich auf der Toilette ein, ein anderer versteckt sich unter den Sitzen.

„Halt, hiergeblieben“, ertönt eine Stimme von hinten. Polizei. Deutsche, Österreicher und Italiener im gemeinsamen Einsatz gegen illegale Einwanderer. Paßkontrolle. Keiner der Afrikaner kann ein entsprechendes Dokument vorweisen. „Mitkommen, ab, hopp, hopp, immer schön weiter nach vorne durchgehen“, ertönt die Anweisung von einem der Uniformierten. Die Versteckten sind schnell gefunden, auch der Mann auf der Toilette wird schließlich abgeführt. Nur der händchenhaltende Charmeur hat Glück. „Der gehört zu mir, das ist mein Freund“, erklärt die von ihrem vermeintlichen Verehrer bezirzte Dame den Polizisten. Es funktioniert. Die Beamten verzichten in diesem Fall auf die Ausweiskontrolle. In Bozen müssen knapp 20 Afrikaner den Zug wieder verlassen, werden von italienischen Carabinieri in Gewahrsam genommen. Die innereuropäische Zusammenarbeit der Polizeibehörden scheint hier weitestgehend zu funktionieren. Doch die Ernüchterung soll noch folgen.

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Es ist kühl geworden. Zahlreiche Fahrgäste kramen in ihrem Gepäck, holen Jacken und Pullover hervor, als der Zug am Brenner zwischen Italien und Österreich zum Stehen kommt. Auch die zuvor noch im Zug kontrollierenden Polizisten haben sich ihre zivilen Jacken angezogen, steigen aus und verlassen den Bahnhof. Feierabend. Zwei uniformierte Carabinieri grüßen lächelnd vom Bahnsteig aus, den sie offensichtlich kontrollieren sollen. Ein Schwarzer mit einer orangefarbenen Regenjacke kommt auf die beiden zu, redet mit ihnen. Dann drehen sich die Carabinieri um, verlassen den Bahnsteig. Plötzlich kommt ein gutes Dutzend Afrikaner angerannt und erklimmt den Zug. Unter ihnen auch einige Frauen. Nur wenige Sekunden später kehren die italienischen Uniformierten zurück. Sie stellen sich hin und wieder auf ihre Zehenspitzen, werfen ein paar Blicke in den Zug. Doch Kontrollen führen sie nicht durch. Ein Schaffner läuft an ihnen vorbei. „Da vorne ist schon wieder ein ganzes Abteil voll mit denen“, raunt er den Italienern zu. „Ja, ja“, antworten die auf deutsch. Eine Aussage, die gemeinhin eine andere Bedeutung hat ...

„Wir sind schon auf dem Brenner“, lautete einst ein Lied, das die deutsche Fußball-Nationalmannschaft anläßlich der Weltmeisterschaft 1990 in Italien gesungen hatte. Ähnliches dürfte auch den dreißig illegalen Einwanderern freudig durch den Kopf gehen, die nun im Zug sitzen und keine Paßkontrollen fürchten müssen. Kein Polizist ist zugestiegen. Nicht einmal die Fahrkarten werden bis zum Halt in der Tirol-Metropole kontrolliert.

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Erst hier in Innsbruck steigen österreichische Beamte in den Zug. Einer der illegalen Einwanderer hat Pech, läuft zwei Polizisten direkt in die Arme. Die geleiten ihn aus dem Zug, nehmen ihn in Gewahrsam. Ihre Kollegen dürfen die restlichen 29 am nächsten Bahnhof in Jenbach hinausgeleiten. „Das geht jeden Tag so“, sagt ein Bahnmitarbeiter der JF. „Bringen tut’s nichts. Sowie sie die Leute wieder nach Italien zurückgebracht haben, versuchen die es wieder.“ Hinzu komme, daß die Polizei aufgrund des Schengen-Abkommens keine Grenzkontrollen durchführen darf, sondern allenfalls Stichproben vornimmt.

Während im Eurocity nach München Polizisten zumindest noch Kontrollen vornehmen, fährt der früh am nächsten Morgen startende ICE ohne Ordnungshüter durch Österreich. Es sind diesmal deutlich weniger Migranten eingestiegen, gerade einmal sieben. Dennoch scheint sich die frühe Abfahrtzeit als Geheimtip für illegale Einwanderer zu entpuppen. Es sind sowenig Fahrgäste unterwegs, daß der Zug vielleicht gerade deshalb von den Behörden unbehelligt bleibt.

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Auch in Deutschland ist von der Polizei nichts zu sehen. Am Bahnsteig von Rosenheim, dem ersten deutschen Halt hinter der Grenze, sind keine Uniformierten anzutreffen. Artig zeigen die Afrikaner dem Schaffner ihre Fahrausweise. Längst wissen sie: Sie haben die unbemerkte Einreise nach Deutschland geschafft.





Illegale Einreise

Die Bundespolizei hat in der vergangenen Woche einen „Rekord“ von 2.000 illegalen Grenzübertritten nach Bayern festgestellt. In den ersten vier Monaten dieses Jahres gab es knapp 12.500 unerlaubte Einreisen, fast 11.000 davon an der deutsch-österreichischen Grenze, teilte die Bundespolizeidirektion München mit. Dies sind fast 300 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die meisten der illegal Einreisenden seien in einem aus Italien über Österreich kommenden Zug oder an einem Bahnhof festgestellt worden. Die österreichische Polizei meldete, sie habe vergangene Woche im Bundesland Tirol 205 illegale Migranten aufgegriffen, davon 186 im Zug. In Südtirol werden pro Tag derzeit etwa 135 „Flüchtlingsankünfte“ am Bahnhof Bozen und etwa 80 am Brenner registriert.