© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Die eigenen Wurzeln abschneiden
Flüchtlingsströme: Europäische Egalitaristen wollen sich die Welt durch Einwanderung neu erschaffen
Thorsten Hinz

Falls der Zustrom von Einwanderern nach Europa ungebremst anhält, werden die Umbrüche von 1989 sich als ein ebenso belangloses wie trügerisches Vorspiel eines Dramas herausstellen, das den Alten Kontinent zur Disposition stellt. Die jetzt als „Flüchtlinge“ apostrophiert werden, rekrutieren sich überwiegend aus dem afrikanischen und asiatischen Bevölkerungsüberschuß, der – aus nachvollziehbaren Motiven – nach Norden drängt. Vor allem ist es ein Überschuß an jungen Männern, die zumeist in archaischen Vorstellungen und Verhaltensstrukturen verwurzelt sind und eine aggressive Erwartungshaltung mitbringen.

Den meisten von ihnen fehlen die sachlichen und kulturellen Voraussetzungen, um sich zu integrieren und beruflich Fuß zu fassen. Folglich werden sie andere Wege beschreiten, um ihre Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Ihre Aussichten auf Erfolg sind günstig, weil sie auf alternde und pazifizierte Gesellschaften treffen. Diese wecken Begehrlichkeiten und haben gleichzeitig den Nimbus respektabler Macht längst verloren. In dem vor über vierzig Jahren verfaßten visionären Roman „Das Heerlager der Heiligen“ hat Jean Raspail im Zeitraffer beschrieben, was aus solcher Konstellation folgt.

Die Funktionseliten aus Politik, Wissenschaft, Publizistik, Kirchen bemühen sich unterdessen, kleinste Anzeichen von Bürgerprotest zu ersticken und Flüchtlings- beziehungsweise „Refugees“-Romantik zu verbreiten. Jedes Elitesegment hat gruppenegoistische Gründe dafür. Trotzdem ist es erstaunlich, wie leichtfertig sie die Erosion einer Lebenswelt, einer politisch-sozialen Ordnung und Kultur in Kauf nehmen, die beispiellos ist und eben deshalb zum Ziel von Sehnsüchten wird. Das gilt nicht nur für Deutschland. Wird die Tatsache, daß die europäischen Länder die großen Kriege des 20. Jahrhunderts gemeinsam verloren haben – nicht zuletzt gegen die nichtweiße Welt –, nun moralisch nachvollzogen? Läßt die Selbstnegation Europas, das Abschneiden der eigenen Wurzeln, sich als Autoaggression deuten, der mit Gedächtnis- und Traditionsverlust, mit kollektiver Altersdemenz zusammenhängt?

Eine eigenwillige Erklärung jahrhundertealter, untergründiger Entwicklungen, die jetzt offen aufbrechen, findet sich in Peter Sloterdijks jüngstem Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“. Sloterdijk sieht eine anti-genealogische Tendenz am Werk, die in der Renaissance mit der Delegitimierung des Erbadels begonnen hat, der sich mit den Vertretern einer bürgerlichen Leistungselite geschäftlich, aber auch familiär verband. Der an sich vernünftige Entschluß hatte einen dialektischen Pferdefuß, denn er setzte die generelle Delegitimierung der Herkunft und die allgemeine Egalisierung in Gang. Die historische Diskontinuität und der Aufstand gegen die früheren Geschlechter wurden zum Ausweis der Fortschrittlichkeit. In den USA wurde die Herkunftslosigkeit zur Staatsideologie. Das Ideal bildet die „Meta-Nation“, in der „alle Herkunfts-Farben zu willkommenen Folkloren herabgestuft werden“. Sie sei als „radikal bastardisches Kollektiv“ verfaßt, dessen Mitglieder „in ihrer bewußten Enterbung (...) das Prinzip des selbstbestimmten Heils entdecken“ und politisch an der „fortwährenden Herstellung einer post-nationalen Lebensform“ arbeiten.

Marx und Engels haben den Proletarier, den Besitz- und Herkunftslosen, zum geschichtlichen Heilsbringer und Erben aller Legitimitätstitel bestimmt. Davon geblieben ist die „Metaphysik des Konsums“ beziehungsweise der „Letzten Menschen“, die mit der „Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenslosen Selbstverzehrern“ zufrieden sind. Das erweist sich als tödlicher Angriff auf das alteuropäische Paradigma, das in das Bild des Baumes gefaßt werden kann. Indem er seine Wurzeln tief in die Erde einläßt, einen festen Stamm und zahllose Verästelungen und Verzweigungen aufweist, stellt der Baum das Sinnbild für Herkunft, Hierarchie und Legitimität dar.

Er ist abgelöst worden vom anti-genealogischen Paradigma des „Rhizoms“, das vor über vierzig Jahren von Gilles Deleuze und Felix Guattari beschrieben wurde: Ein Rhizom ist ein Wurzelgeflecht, das sich horizontal im flachen Boden ausbreitet und dort immer neue, spontane Vernetzungen flicht und ein flexibles System aus ständig veränderten sozialen Zusammenhängen bildet.

Die Medienikone Conchita Wurst ließe sich in nuce als rhizomatische Existenz beschreiben. Aus dem Fundus des Zeitgeistes schöpfend, hat sie sich völlig unkonventionell selber konstitutiert. Als nomadisches und autoerotisches Wesen bildet sie die Kontrastfigur zum weißen, heterosexuellen Mann und traditionellen Familiengründer – dem aktuellen Haßobjekt.

Der „vater- und mutterfreie“ neue Menschentyp ist auch eine „staatlose Größe“ und die Frage nach Nation und Staatsbürgerschaft sinnlos und reaktionär. Der Begeisterung für Homosexuelle, die von Leihmüttern ausgetragene, herkunftslos gemachte Kinder adoptieren, entspricht die Erhebung des nomadisierenden „Refugee“ zum Vertreter und Sinnbild des „hyper-bastardischen rhizomartig verzweigten Globalwelt-Kollektivs“.

Für die wissenschaftliche Begleitmusik sorgen „post-colonial studies“, die Eu-

ropa das Recht auf Selbstbehauptung absprechen. Allerdings können auch sie nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß in den postkolonialen Räumen nichts geschaffen wurde, was über die europäischen Errungenschaften hinausragt. In vielen Ländern haben Kleptokraten, Putschisten und Verbrecher vielmehr die „bekannten Spuren aggressiver Herkunftsanomalien“ gezogen und die Gesellschaft zugrunde gerichtet. Für Deutschland hat Thilo Sarrazin nachgewiesen, daß ein genealogisches Erbe wohl verleugnet werden kann, aber dennoch wirksam bleibt und sich an den Leugnern letztlich rächt.

Die europäischen Egalitaristen erblicken in der Aufhebung der staatlichen Struktur und in der geistig-kulturellen Verflachung ihre Chance, definitiv zum Zuge zu kommen. Sie möchten die Geistesgeschichte neu schreiben und sich die Welt durch Einwanderung neu erschaffen. Sie werden, falls sie Erfolg haben, bloß als nützliche und dann als unnütze Idioten dastehen.

Foto: Wurzelwerk: Sinnbild für Herkunft, Hierarchie und Legitimität – oder für ein flexibles System aus ständig veränderten sozialen Zusammenhängen