© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Siebenzueins
Christian Eichler versucht, das unglaubliche WM-Halbfinale in Worte zu fassen
Marcus Schmidt

In der Regel dauert ein Fußballspiel 90 Minuten. Manche Spiele aber heben die Gesetze von Raum und Zeit auf und prägen sich auf ewig in das kollektive Bewußtsein ein. Sie werden zu Jahrhundertspielen. Wie das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Juli zwischen der deutschen Nationalmannschaft und Brasilien. Das legendäre 7:1 in Belo Horizonte war eines der spektakulärsten WM-Spiele überhaupt. So bemerkenswert, daß der Sportjournalist Christian Eichler aus den 90 Minuten 285 gedruckte Seiten auf umweltfreundlichem Papier gemacht hat.

Doch geht das überhaupt? Mit einem Spiel, das gerade einmal 90 Minuten gedauert hat, 285 Seiten füllen? Ja, es geht – und wie! Der langjährige Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der das Spiel im Stadion verfolgt hat, verbindet auf spannende Art und Weise die minutiöse Schilderung des Spielverlaufs und der entscheidenden Spielzüge mit Beobachtungen im Stadion, Reaktionen aus aller Welt, Hintergründen zur Entwicklung der Spielsysteme und der Geschichte des Fußballs bis hin zu philosophischen Betrachtungen.

Eichler deutet das Spiel als Sieg des modernen, rationalen Fußballs europäischer Prägung über den in die Jahre gekommenen „archaischen“ Fußball der Brasilianer, der von Emotionen bestimmt werde und auf Gottvertrauen setze. Oder genauer: auf die „Fußballgötter in Gelbgrün“.

Bei aller ausgelassenen Begeisterung auf den Fanmeilen in Deutschland und dem ungläubigen Staunen bei Fußball­anhängern in aller Welt wurde häufig übersehen, wie sehr das 7:1 Brasilien erschüttert hat. Schon während des Spieles dokumentierten die von den Fernsehkameras eingefangenen entgeisterten Blicke der brasilianischen Zuschauer im Stadion den Schockzustand, in den die Zuckerhut-Nation vor allem durch die ersten fünf Tore der Deutschen versetzt wurde.

Bis zum Ende aller Tage

bleibt die Erinnerung

Für die fußballbegeisterten Brasilianer sei an diesem Tag nicht nur der Traum vom sechsten WM-Titel, der „Hexa“ zusammengebrochen, analysiert Eichler. Die magischen sechs Minuten zwischen dem 2:0 durch Miroslav Klose (23. Spielminute) und dem 5:0 durch Sami Khedira (29. Minute) hätten ein Lebensgefühl zerstört, das die Brasilianer bis dahin mit dem Fußball verbunden hätten. Um das Ausmaß der Demütigung der „Seleção“ zu verdeutlichen, bemüht er die Statistik: „Noch nie in der WM-Geschichte, in keiner der achthundertzweiunddreißig Partien seit 1930, hat eine Mannschaft so früh so hoch geführt.“ Eine Erniedrigung, die noch viele Jahre nachwirken wird. Auch wenn die französische Sportzeitung L’Équipe am Tag nach dem Halbfinale dann vielleicht doch etwas über das Ziel hinausschoß: „Am Tag des Weltuntergangs wird man sich noch an dieses Halbfinale erinnern.“

Diese Einschätzung zeigt aber, daß es mehr als berechtigt ist, ein Buch über dieses Spiel zu schreiben. Auch wenn Christian Eichler gleich zu Beginn der 285 Seiten feststellt: Eigentlich reiche ein Wort, um dieses unglaubliche Ereignis zu beschreiben: siebenzueins.

Christian Eichler: 7:1. Das Jahrhundertspiel. Als der brasilianische Mythos zerbrach und Deutschlands vierter Stern aufging, Droemer, München 2015, broschiert, 285 Seiten, 12,99 Euro