© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Die Risse sind unübersehbar
Vertriebenenpolitik: Der Streit um das Verhältnis zur alten Heimat prägt den traditionellen Sudetendeutschen Tag
Gernot Facius

Bernd Posselt (CSU) führte geschickt Regie. Bevor er am Pfingstsonntag in der Augsburger Schwabenhalle ans Rednerpult ging, um die umstrittene Satzungsänderung der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) zu verteidigen, ließ er Pavel Belobradek, den stellvertretenden tschechischen Premierminister, kurz zu Wort kommen. Belobradek grüßte via Video die „sehr geehrten Landsleute“ und zitierte die Vaterunser-Bitte: „Herr vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ 

Die Botschaft, die SL-Sprecher Posselt mit dieser Inszenierung verband, ließ sich leicht entschlüsseln: Seht her, es tut sich was im sudetendeutsch-tschechischen Verhältnis, hört nicht auf die Kritiker, die gegen die Streichung der Satzungspassage „Wiedergewinnung der Heimat“ und Forderung nach Restitution anrennen.  Es war eine bewegende Geste des jungen Vorsitzenden der KDU-CSL (Christliche und Demokratische Union) am 66. Sudetendeutschen Tag, unter dem Motto „Menschenrechte ohne Grenzen“.  

Daß damit „wieder ein kleines Stück Geschichte geschrieben wurde“ (Posselt),  gehört freilich zu den üblich gewordenen Übertreibungen. Das gilt auch für Horst Seehofers (CSU) Räsonieren über einen „neuen Kurs“ beim Thema Vertreibung in der Tschechischen Republik. Der mutige Belobradek, Jahrgang 1976, steht nicht repräsentativ für die politische Klasse in Prag, seine Partei lebt eher in einer Nische. Den Ton geben noch immer diejenigen an, die die sudetendeutsche Frage als erledigt betrachten und, wie Staatspräsident Milos Zeman, die SL als  „bedeutungslose Vereinigung“ verspotten. Kurz vor dem Augsburger Treffen ergab eine Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstituts NMS, daß 70 Prozent der Tschechen die Vertreibung „unausweichlich“ nennen, 61 Prozent bezeichneten sie als „gerecht“, Zwei Drittel halten eine Entschuldigung nicht für notwendig. Das dämpft die Hoffnungen auf ein „neues Denken“ an der Moldau.

Auch Posselt war nicht verborgen geblieben, daß sich angesichts dieser Lage ein Riß durch seinen Verband zieht. Er geht tiefer als die öffentlichen Proteste der Bezirksgruppen Oberbayern und Schwaben gegen den „Modernisierungskurs“ vermuten lassen, das zeigen auch Pfiffe während Posselts Rede. Der SL-Sprecher suchte den Unmut einzuhegen. Er bekundete den mit sachlichen Argumenten auftretenden Gegnern der Satzungsänderung, vor allem aus der Erlebnisgeneration, seinen Respekt. Zugleich grenzte er sich von nicht näher definierten Kräften ab, die „diese historische Umbruchsituation für irgendwelche Agitationen nutzen“, um sich, wie er an anderer Stelle sagte, „am äußersten rechten Rand zu positionieren“. Er versprach, die SL werde das individuelle Recht auf Heimat nicht preisgeben, das sei etwas anders als das  „längst unrealistische Ziel“ einer „Wiedergewinnung der Heimat“. In der Sudetendeutschen Zeitung bediente er sich einer bei Fritz Wittmann (CSU), einem früheren Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, entlehnten Formulierung aus dem Umbruchjahr 1989: Man solle nicht mehr von „Wiedergewinnung“, sondern von „Wiederbelebung“ der Heimat sprechen. Der Genius loci der einst sudetendeutschen Städte und Dörfer, schrieb Posselt, und er variierte diesen Satz vor den Tausenden in der Schwabenhalle, könne in neuen Formen von Tschechen und  Sudetendeutschen wieder zum Leuchten gebracht werden. Im übrigen gehe es nicht darum, sich die Wunden zu lecken und auch nicht darum, Wunden über Jahrzehnte hinweg am Schmerzen zu erhalten. „Sondern wir haben mit Blick auf die Vertreibung ganz konkrete Anliegen.“ Es sei entscheidend, ehrlich über die Vertreibung als „eiskaltes Nachkriegsverbrechen“ zu reden im Sinne eines „Nie wieder“ und jeglichem Kollektivschulddenken entgegenzutreten. 

Seehofer, als bayerischer Ministerpräsident auch Schirmherr der Sudetendeutschen, stellte wie Posselt den Dialoggedanken ganz ins Zentrum seiner Rede. Er würdigte den SL-Sprecher als „Brückenbauer“, der sich für Versöhnung einsetze, ohne den eigenen Standpunkt zu unterschlagen. Seehofer konnte freilich nicht verhindern, daß  auf Plakaten und Flugblättern der Rücktritt von Posselt gefordert wurde – ein seltener Vorgang in der für ihre Geschlossenheit bekannten Landsmannschaft. Bemerkenswert: Die bayerische SPD-Landtagsfraktion nannte in einem  an die Teilnehmer des Pfingsttreffens verteilten „Parlamentsbrief“ die Satzungsänderung einen „Meilenstein der Verständigung“, und sie garnierte diese Würdigung mit viel Lob für den CSU-Mann Posselt. Die Abgeordneten der Freien Wähler äußerten sich differenzierter. Sie bezweifelten, ob es glücklich war, eine Satzungsänderung zu beschließen, „obwohl eine erhebliche Minderheit damit nicht einverstanden ist und zum Teil auch nicht damit leben kann“.

Zu den Besonderheiten dieses Treffens zählt auch, daß der Witikobund, der trotz abnehmender Mitgliederzahl noch in den SL-Gruppierungen verankert ist, vom Sudetendeutschen Tag ausgesperrt worden war. Vorwurf: „mangelnde Abgrenzung zum Rechtsextremismus“. 2014 hatten die Witikonen den aus der Türkei stammenden gesellschaftskritischen Autor Akif Pirinçci („Deutschland von Sinnen“) zu einer Lesung eingeladen.

Foto: Sudetendeutsche am Pfingstwochenende in Augsburg: Wiederbelebung statt Wiedergewinnung?