© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Rausfahren, wenn andere reinkommen
Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger: Das spendenfinanzierte Freiwilligenprojekt feiert seinen 150. Geburtstag / Geschichte eines Erfolgsmodells
Bernd Rademacher

Eine Schwangere auf Amrum schafft es nicht mehr mit der Fähre zur Entbindung nach Föhr. Sohn Raphael kommt auf dem Seenotkreuzer zur Welt. Vor Juist klammert sich ein 25jähriger Surfer völlig entkräftet an ein Seezeichen. Dabei hat er sich die Hände aufgeschnitten. Seenotrettungsboot „Woltera“ rettet und versorgt den Mann. Der 13 Meter lange Kutter „Neptun“ hat Fehmarn fast erreicht, als er um ein Uhr nachts voll Wasser läuft. Kapitän und Matrose können gerade noch einen Notruf absetzen, bevor ihr Boot sinkt. Sie werden vom Seenotrettungsdienst geborgen. 

Typische Einträge aus dem Bordbuch der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Achthundert Freiwillige und 180 Festangestellte wachen an 54 Stationen an Nord- und Ostsee über die deutschen Küstengewässer – von Borkum bis Zinnowitz, von List auf Sylt bis Wilhelmshaven. Und das seit genau 150 Jahren: Am 29. Mai feiert die DGzRS ihre Gründung im Jahr 1865.

45 Seenotretter verloren im Einsatz ihr Leben 

Seitdem haben die Besatzungen der Seenotkreuzer und Rettungsboote über 80.000 Menschen aus lebensbedrohenden Lagen gerettet. 2014 waren es 768 Personen, die in über zweitausend Einsatzfahrten aus dem Wasser gefischt, von havarierten Booten geborgen, krank oder verletzt von Inseln und Halligen an Land gebracht wurden. 72 Schiffe, Jachten und Boote wären ohne Hilfe gesunken. 

In der Geschichte der DGzRS verloren aber auch 45 Seenotretter im Einsatz ihr Leben. Die letzten beiden 1995 vor Borkum. Bei einem der schwersten Unglücke in der Geschichte der DGzRS verloren in der Orkannacht vom 1. auf den 2. Januar 1995 Vormann Bernhard Gruben und Maschinist Theo Fischer auf der Rückfahrt von einem Einsatz ihr Leben. Der nach einer Durchkenterung schwer beschädigte, aber schwimmfähig gebliebene 27,50 Meter lange Seenotkreuzer Alfried Krupp ging ein halbes Jahr später nach einem Umbau wieder auf die Station. Zum Andenken an Gruben und Fischer erhielten zwei Jahre später zwei Seenotkreuzer-Neubauten deren Namen.

Heimathafen und Zentrale der Retter ist Bremen. Von hier aus werden die Einsätze koordiniert. Neben den kleineren 39 Rettungsbooten können die 20 Rettungskreuzer mehrere Tage unabhängig auf See operieren. In einer Heckwanne führen sie ein Tochterboot mit. Die hauptamtlichen Mannschaften arbeiten und schlafen während der zweiwöchigen Wache an Bord. Die Rettungsboote dagegen haben keine Kojen und werden von ehrenamtlichen Besatzungen gefahren; ihr Revier sind die küstennahen Watten- und Boddenzonen.

Insgesamt patrouillieren die Seenotretter entlang einer fast dreieinhalbtausend Kilometer langen Küstenlinie. Ihre erste Voraussetzung: Leidenschaft! Daneben ständiges Lernen und Weiterbildung in der hochkomplexen Rettungstechnik, in der komplizierten Kommunikation und medizinischer Notfallversorgung. Und das alles unter extremen, manchmal dramatischen Bedingungen: „Wir fahren raus, wenn andere reinkommen“, sagt Gerd Schwips (52) von der Rettungsstation Norderney. Heute retten die Aktivisten nicht nur Leben, sondern verhindern auch Umweltschäden durch Treibstoff oder Ladung. Die Anfänge waren weitaus bescheidener.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts verunglückten vor den deutschen Nordseeinseln jedes Jahr rund fünfzig Schiffe. In dieser Zeit galt noch das „Strandrecht“, also die Lizenz zur Plünderung. Doch mit Katastrophen wie dem Untergang des Auswandererschiffes Johanne 1854 vor Spiekeroog setzte ein Umdenken ein. Unabhängig voneinander gründeten sich in Emden, Bremerhaven und Hamburg private Rettungsinitiativen; auf Juist und Langeoog wurden die ersten Stationen eingerichtet. 

Diese Vereine schlossen sich Ende Mai 1865 zur Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zusammen. Besonders Preußen-Prinz Heinrich – der die nach ihm benannte Marinemütze populär machte – setzte sich stark für den Ausbau ein. Schon 1910 unterhielt die DGzRS ein durchgehendes und einheitlich ausgerüstetes Netz von Borkum bis Memel. Zwei Dinge haben sich seitdem nicht verändert: In Seenot gerät man schneller, als man denkt. Wetterumschwung, Maschinenschäden, Grundberührung, Überladung, Navigationsfehler, ignorierte oder falsch ausgeführte Anweisungen, Wassereinbruch, Brand. Die Ursachen für Seenotfälle sind so vielfältig wie unberechenbar. 

Die zweite Konstante ist das Erstaunlichste an der DGzRS: Die Gesellschaft finanziert sich ausschließlich durch Spenden und ohne einen Cent Steuergelder! Das klingt schier unglaublich, wenn man an die Flut wesentlich weniger nützlicher Initiativen denkt, die nach dem Portemonnaie des Steuerzahlers schreien. Zu den Spenden kommen in geringem Umfang Bußgelder der Justiz. Etwa sechs Prozent des jährlichen Kostenvolumens von etwa 20 Millionen Euro kommen als Münzgeld aus den bekannten Sammelschiffchen, die auf etlichen Kneipentresen und Ladentheken stehen.

Warum bemüht sich die DGzRS nicht um staatliche Zuschüsse? Erstens übernimmt sie mit der Küstenrettung hoheitliche Aufgaben, und zudem sind die Kosten enorm: Ein Fenderkissen (Stoßdämpfer) für ein Rettungsboot kostet schon 2.000 Euro, ein Bugstrahlruder 25.000. 

Spendensystem garantiert Handlungsfreiheit 

Pressesprecher Christian Stipeldey erklärt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Wir erhalten uns mit der privaten Finanzierung die Handlungsfreiheit. Indem wir den Staat aus der Tür halten, entscheiden wir selbst, ob ein neues Schiff angeschafft oder eine Station ‘wegen Unrentabilität’ geschlossen wird.“ Dabei übernimmt die DGzRS als nichtstaatliche Organisation offiziell die Verpflichtungen Deutschlands aus dem internationalen Übereinkommen über Suche und Rettung auf See („Search and Rescue“/SAR) von 1979.

Die Qualitätsstandards sind entsprechend hoch. Die festangestellten Rettungsmänner sind alle ausgebildete Seeleute. Sie haben an einer Seemannsschule ein nautisches oder technisches Patent erworben und sind anschließend in der Fischerei oder Handelsschiffahrt gefahren. Das bedeutet: Die DGzRS bildet keine Seeleute aus, sondern schon gestandene Seeleute zu Rettern weiter. Dies setzt permanente Qualifizierung voraus, die in eigenen Schulungszentren vermittelt wird. Für die weiteren Besatzungsmitglieder (Matrosen/Techniker) reichen entsprechende Zertifikate (zum Beispiel Schiffsmechanikerbrief) und Nachweise über Fahrzeiten aus. Die ehrenamtlichen Freiwilligen schließlich werden in ihrer Freizeit für den SAR-Dienst ausgebildet. Ein Sportbootführerschein oder ähnliches wird gerne gesehen, ist aber keine Bedingung. Vorausgesetzt wird aber ein Wohnort in Stationsnähe, da der Alarm wie bei der freiwilligen Feuerwehr erfolgt.

Die Helfer wissen nie, was der nächste Tag bringt. Mit der Zeit entwickeln sie einen Instinkt für den Ernst der Funkmeldungen, die ständig mitlaufen. Oftmals kommt die Rettung buchstäblich in allerletzter Minute. So wie am 29. April vergangen Jahres: Gordon Mewes ist schon als 18jähriger auf dem Familienkutter gefahren. Heute ist der 37jährige Kapitän, ein erfahrener Profi, der die See kennt. Um halb sieben winkt der Feierabend, der letzte Fang wird eingeholt. Dann hält etwas am Meeresgrund sein Netz fest, während gleichzeitig eine starke Strömung am Schiff zerrt. In nur 15 Sekunden hat die „Wattenmeer“ extreme Schräglage: „Wir kentern!“ 

Nachwuchssorgen gibt es nicht 

In Cuxhaven läuft der Seenotretter „Hermann Helms“ mit voller Kraft seiner 3.200 PS in Richtung Gelbsand-Sandbank, dem Unglücksort. Währenddessen treibt der Kutter fort. Die Crew klammert sich an der Bordwand fest. Nach seiner Rettung sagt Mewes: „Ich habe nicht gedacht, daß ich da lebend rauskomme und hatte mich beinahe schon damit abgefunden.“

Ist es nicht schwierig, immer neuen freiwilligen Nachwuchs zu finden, wenn der Rekrutierungsradius so stark eingeschränkt ist? Christian Stipeldey sagt: „Die Affinität zum Thema Seenotrettung ist in unseren Küstenregionen naturgemäß sehr verbreitet. Die Freiwilligen opfern zwar ihre Freizeit, dafür bieten wir einen zusätzlichen Lebenskreis. Daher leiden wir nicht unter Personalmangel.“ Oft bekommt die Gesellschaft Anfragen nach Praktikumsplätzen oder Bundesfreiwilligendienststellen. Leider muß Stipeldey abwinken: „Schon aufgrund der sehr speziellen Aufgabenstellung können wir leider keine temporären Stellen anbieten.“ Dafür wird seit 2000 in jedem Jahr ein „Bootschafter“ ernannt, der zwölf Monate ehrenamtlich für die Seenotretter Werbung macht. Der erste war der Liedermacher Reinhard Mey. Im Jubiläumsjahr ist es die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen.

Notwendig bleibt die DGzRS auch in Zukunft, denn die Einsatzzahlen zeigen nach oben. Stipeldey weiß, warum: „Obwohl die Sicherheit auf den Schiffen zunimmt, nimmt eben auch die Schiffahrt zu. Das spiegelt sich in der Zahl unserer Rettungen.“

Ärgert es die Retter nicht, wenn ein Notfall durch Leichtsinnigkeit verursacht wird? Stipeldey: „Wir fragen nicht nach der Ursache, wir sind schließlich keine Ermittlungsbehörde. Wir können das – wir machen das, aber moralisch beurteilen tun wir es nicht. Auf See kann die kleinste Nachlässigkeit ganz schnell zum großen Problem führen, wo sollen wir da eine Grenze ziehen, wann sich ein Einsatz lohnt? Wir rechnen den Aufwand nicht gegen Menschenleben auf.“



Sammelschiffchen 

„Geben Sie Spenden einen Ankerplatz“ ist das Motto der spendenfinanzierten Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Die bekannten Sammelschiffchen sind in diesem Kontext seit über 135 Jahren das Symbol für die freiwillige Arbeit der Seenotretter. Aktuell sind rund 14.000 von ihnen deutschlandweit im Einsatz – sogar auf der Zugspitze. Interessenten, die einen „Ankerplatz“ mieten möchten, tun dies auf www.seenotretter.de/ oder unter Telefon: 0421 / 53 707 705.

Foto: Seenotkreuzer „Eugen“ in Aktion: Mit einem Tiefgang von nur 1,30 Metern ist das Schiff vor allem für den Einsatz im küstennahen Bereich – hier Greifswalder Oie (Mecklenburg-Vorpommern) – geeignet