© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Als ich in Berlin-Neukölln aus der U-Bahn ins Tageslicht trete, eröffnet sich vor mir die Szenerie für „eine andere Gesellschaft“: Zu Buschkowskys jüngstem Buchtitel, der verhindern soll, daß Neukölln dereinst überall sein wird, präsentiert sich ein Tableau zur Transformation des Spiegelstadiums (Jacques Lacan) – sofern an die Stelle des Kleinkindes die infantile, regressive Gesellschaft gesetzt wird. Tatsächlich begegnen mir nur verschleierte Frauen mit Kinderwagen. Die Straße dominieren Mercedes-Limousinen mit Besitzern türkischer und arabischer Herkunft. Einzige deutsche Geschäfte im Straßenbild sind die zwei Bestattungsunternehmen – deren Tage dürften gezählt sein. Wenig später ist der Columbiadamm gesperrt, dreitausend Trauergäste zur Beerdigung der kriminellen Brüder Aziz und Ahmad A. blockieren die Fahrbahn.

In einer Gegenwart, da fast alle Passagiere ihre Wirklichkeit gegen den Blick in die virtuelle Welt ihrer iPads und iPhones eintauschen, verschmelzen Welten und Zeiten eigenartig. Unwillkürlich erklingt in meinem Kopf der Refrain des mythisch anmutenden, aggressiven Sandow-Songs „Factory“ aus dem Ende der DDR: „You are my homeland / but we are the homeless people“. Die Zeilen bilden den Resonanzraum zum Gespräch in der U-Bahn, wo zwei Frauen ihren südländischen Begleiter auffordern, sich beim Casting für die US-Serie „Homeland“ (über den islamischen Terror) zu melden, deren kommende Folgen im Juni in Berlin gedreht werden und für die 1.000 Komparsen gesucht werden, „bevorzugt arabische, türkische, persische, nordafrikanische, syrische und südeuropäische Menschen, möglichst mit Bart“.

Bei dieser Nachfrage müssen Autochthone „draußen vor der Tür“ bleiben. In zynischer Weise zeigt das die Volksbühne Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz, die ihre linksrevolutionäre Romantik in Frakturschrift „verkauft“. Im „Best of Poetry Slam“, annonciert als „Geschlechterkampf“, macht sich die im Finale vortragende Kirsten Fuchs in der Figur der Ehefrau über einen Kriegsheimkehrer im Jahr 1946 lustig: „Der feine Herr kommt, ohne sich anzumelden ... wie, du bist im Lager gewesen, na jedenfalls nicht Lagerfeld ... wenn ich wenigstens gewußt hätte, daß du gefallen bist, hätte ich mir nicht so’ne Sorgen gemacht.“ Der volle Saal applaudiert frenetisch. Zum Schluß werben die Moderatoren für das nächste Mal, das wieder „eloquente Inkompetenz“ garatiere. „Ihr braucht euch das alles nicht zu merken. Wozu gibt es Facebook?!“ Die Heimat der „ausgeborenen“ Digital Natives.