© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Rückbindung an das Göttliche
Wandel der Lebensweise: Ausstellung „Künstler und Propheten“ in der Schirn
Claus-M. Wolfschlag

Keine künstlerische Persönlichkeit, sondern ein Typus, eine Figur der Moderne, steht im Mittelpunkt einer außergewöhnlichen Sonderausstellung der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Traten bereits seit der Renaissance die Künstler aus der Anonymität heraus, wurden zu schöpferischen Individuen, die auf die Gesellschaft zurückwirkten, so radikalisierte sich dieses Konzept im späten 19. Jahrhundert. Einzelne Künstler entwickelten sich nun zu „Propheten“, heute würde man von „Gurus“ sprechen. Sie strebten einen tiefgreifenden Wandel in der gesellschaftlichen Lebensweise an und praktizierten diesen auch selbst. Die Kunst wurde dabei das Vehikel zur Vermittlung des neuen Lebens, das so auch eine neue Rückbindung an das Göttliche erfahren sollte.

Die beeindruckende Schau in der Schirn widmet sich mit den künstlerischen „Propheten“ also einer „geheimen Geschichte der Moderne“. Gezeigt werden über 400 Exponate – Gemälde, Grafik, Fotografien, zeitgenössische Publikationen und persönliche Schriftstücke. Die Ausstellung beginnt in den 1890er Jahren mit dem 68 Meter langen Fries „Per aspera ad adstra“ Karl Wilhelm Diefenbachs (1851–1913). Der als „Kohlrabiapostel“ Verspottete hatte sich nach einem Offenbarungserlebnis eine Mönchskutte angezogen und 1885 eine Kommune im oberbayerischen Höllriegelskreuth gegründet. Durch seine radikalen Ideen und seine Lebensweise zog Diefenbach viele Anhänger, darunter zahlreiche Künstler, in seinen Bann.

Mit seiner Propagierung von Nacktkultur, Vegetarismus und freier Liebe nahm Diefenbach die bald folgende Lebensreform-Bewegung vorweg. Sein Wirken fand also fruchtbaren Boden in einer Zeit, die ohnehin nach Reaktionen auf die fortschreitende zivilisatorische Moderne und den beginnenden Verlust der christlichen Bindekraft suchte.

Diefenbachs bekanntester Schüler, der „Fidus“ genannte Hugo Höppener (1868–1948), entwickelte die in der Kommune erlebten Erfahrungen weiter und reicherte sie mit populären spirituellen Lehren der Jahrhundertwende an. Beginnt die Ausstellung also mit einigen düsteren Gemälden Diefenbachs, die vor allem geheimnisvolle christliche und altägyptische Szenen zeigen, so gerät der folgende, Fidus gewidmete Teil zu einem Rausch an Leichtigkeit, Farbe und ornamentalem Spiel mit Naturformen.

Mit durchgeistigt weiten Augen blickt einem die „Lotoskönigin“ entgegen, die Tolkiens „Herrn der Ringe“ entsprungen sein könnte. Voller Leichtigkeit bewegen sich die Mädchen in der Bildserie „Tempeltanz der Seele“. Zudem sind zahlreiche Entwürfe für monumentale Tempel zu sehen, in denen Fidus das kunstsinnige und spirituell erweckte Volk wieder zu vereinen trachtete.

Die chronologisch ausgerichtete Schau führt weiter zu Frantisek Kupka (1871–1857). Dessen Kontakt zu Diefenbach und Fidus ist an mehreren, magisch in ihren Bann ziehenden Gemälden von Astralkörpern und alt-ägyptischen Tempelbauten erkennbar, die sich immer stärker der Abstraktion zuwandten.

Die gesellschaftliche Wirkung der Kunst-Propheten wird auch durch zahlreiche Fotografien und Schriften vergegenwärtigt. So sieht man Aufnahmen des Wanderapostels Gusto Gräser (1879–1958), der im Tessin die Aussteiger-Siedlung Monte Verità mitbegründete. Ebenso Fotografien des als „Jesusapostel“ bekannt gewordenen Wanderpropheten Gustav Nagel (1874–1952) und des „Messias“ der Deutschen Jugendbewegung Friedrich Muck-Lamberty (1891–1984). Von deutsch-völkischen und christlichen Gedanken geleitet, bildete er 1920 die Jugendgruppe der „Neuen Schar“, die durch Thüringen zog und mit ihren Tanzveranstaltungen bemerkenswerte Popularität in der Bevölkerung erfuhr.

Neben diesen, den meisten Besuchern wohl bislang wenig bekannten Namen wartet die Schau auch mit derzeit gängigeren Künstlern auf. So sieht man Gemälde Egon Schieles und des in kommunistisches Fahrwasser geratenen Heinrich Vogeler. Und die Schau zeigt, daß die Künstler-Propheten auch noch bis über die 68er-Zeit hinaus als Spätphänomen eine Rolle spielten. So schließt sie mit zahlreichen Exponaten von Jörg Immendorff, Joseph Beuys und Friedensreich Hundertwasser, die in einen stilistischen Kontext zu Diefenbach und Fidus gestellt werden.


Die Ausstellung „Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872 – 1972“ ist bis zum 14. Juni in der Frankfurter Kunsthalle Schirn, Römerberg, täglich außer montags von 10 bis 19 Uhr, Mi./Do. bis 22 Uhr, zu sehen. Das Begleitbuch kostet 58 Euro. Telefon: 069 /29 98 82-0

 www.schirn.de