© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Über den Tod triumphieren
Kreuzigung und Auferstehung: Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald ist eines der bedeutendsten Malwerke der deutschen Kunstgeschichte
Reinhold Böhnert

Das genaue Datum ist nicht überliefert, aber es spricht einiges dafür, daß vor fünfhundert Jahren, im Frühjahr 1515, eines der bedeutendsten Malwerke, das die deutsche Kunstgeschichte hervorgebracht hat, vollendet, aufgestellt und geweiht wurde. So geschehen im Antoniterkloster im elsässischen Isenheim, das dem von den Ordensbrüdern langersehnten neuen, modernen Flügelaltar für ihre Kirche den Namen gegeben hat.

Der Schrein mit seinem spätgotisch üppigen Gesprenge und seinen vergoldeten Holzskulpturen war schon 1505 aus Straßburg geliefert worden. Als sein Schöpfer gilt Nikolaus Hagenauer, der für die Herstellung auch schon zwanzig Jahre gebraucht hatte. Und bis die gemalten Tafeln – es sollten insgesamt elf werden – zur Ausführung kamen, verging noch einmal ein ganzes Jahrzehnt.Abt Guido Guersi, ein Italiener, stellte offenbar hohe Ansprüche an diesen Großauftrag und hatte konkrete Vorstellungen. Irgendwann muß er auf den damals etwa dreißigjährigen Matthias Grünewald gekommen sein, der wohl aus Würzburg stammte und seit 1505 als Hofmaler und auch als Werkmeister des Erzbischofs von Mainz in Aschaffenburg tätig war. 

Mit der riesigen „Kreuzigung“ von 2,5 mal 3 Meter hat Grünewald spätestens 1512 sein Werk begonnen. Sie wird flankiert von zwei feststehenden Tafeln mit dem Patron des Ordens, dem hl. Antonius, und dem Pestheiligen, dem hl. Sebastian, den manche Forscher für ein Selbstbildnis des Künstlers halten. Dazu gehört noch eine Predella mit einer „Beweinung“.

Auf dem Hauptbild befinden sich vor einem kaum definierbaren düsteren Hintergrund links unter dem Kreuz Maria, Maria Magdalena und der Jünger Johannes. Auf römische Soldaten und Volk wurde verzichtet. Rechts aber steht Johannes der Täufer mit seinem Attribut, dem „Lamm Gottes“. Er weist auf Christus und spricht lateinisch die im Johannes-Evangelium überlieferten Worte: Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. Hier wird also das Geschehen auf Golgatha theologisch ausgedeutet, denn Johannes der Täufer war ja bei der Kreuzigung Jesu nicht zugegen, galt aber als sein Wegbereiter, hatte ihn im Jordan getauft und als Messias erkannt.

Ein Engel überbringt die Botschaft des Hirten

Diese komplizierte Ikonographie darf man wohl Abt Guersi zurechnen. Bei der künstlerischen Umsetzung hatte Grünewald aber weitgehend freie Hand. Sein Duktus ist äußerst variantenreich, weist auch alla prima gemalte Partien auf und weicht von der Vorzeichnung ab, wenn es aus technischen Gründen geboten scheint.

Die „Kreuzigung“ schließt den Altar. In dieser Grundposition befand er sich die meiste Zeit des Kirchenjahres über und führte nicht nur den Ordensbrüdern permanent den überaus qualvollen Kreuzestod Christi vor Augen, sondern auch den von ihnen in ihrem Hospital gepflegten Kranken, die sich durch meditative Versenkung in das Bild Linderung ihrer Leiden erhofften.

Wenn die beiden Tafeln, aus denen die „Kreuzigung“ besteht, aufgehen, kommt eine neue Schauseite mit Themen aus der Geschichte Jesu zum Vorschein, beginnend mit der „Verkündigung“, die sich in einer hell erleuchteten Hauskapelle ereignet. Gleich daneben befindet sich ein reich verziertes spätgotisches Kirchenportal mit musizierenden Engeln, wie man sie in der Malerei bis dahin noch nicht gesehen hatte, und mit Maria als Himmelkönigin. Dann erweitert sich die Szene zu einem Garten. Eine ganz irdische, glückliche Mutter sitzt da mit ihrem Kind im Arm, zu ihren Füßen eine Wiege, Nachtgeschirr, ein Topf und ein Holzbottich, aber kein Stall, keine Tiere und auch kein Josef. In der Ferne überbringt ein fliegender Engel die frohe Botschaft den Hirten.

Hier endet etwas abrupt die Lebensgeschichte Jesu, denn auf dem rechten Außenflügel – und dies ist die zentrale Botschaft des Isenheimer Altars – sieht man den Gekreuzigten über den Tod triumphieren. Als Lichtgestalt im wahrsten Sinne des Wortes, frei von irdischer Körperlichkeit, rauscht, getragen von einer aufschäumenden Tuchbahn, dieser auferstandene Jesus in einer überdimensionalen Aura in den gestirnten nächtlichen Himmel – in der Kunst des Mittelalters war er seinem Grab meist bedächtig entstiegen –, die Wächter liegen geblendet und betäubt am Boden. Sie können nicht glauben, was sie erleben.

Die dritte Schauseite des Isenheimer Altars entsteht, wenn die beiden mittleren Tafeln, auf denen das Engelskonzert und Maria mit dem Jesuskind dargestellt sind, aufgeschlagen werden. Dann wird der Schrein mit den Holzskulpturen von Nikolaus Hagenauer sichtbar. In der Mitte thront der hl. Antonius in Ordenstracht und mit dem T-förmigen Antoniuskreuz. Links und rechts von ihm stehen der hl. Augustinus, der die Ordensregel der Antoniter verfaßt haben soll, und der hl. Hieronymus mit seinem Attribut, dem Löwen, dem er während seines Eremitendaseins in der Wüste einen Dorn aus der Tatze zog, sich also wie die Antoniter in der Krankenpflege betätigte.

Zu öffnen ist auch die Predella, wo nun als geschnitzte Halbfiguren Christus und die Jünger erscheinen. Auf den beiden bemalten Außenflügeln – den Rückseiten der Mittelflügel der vorhergehenden Schauseite – steht der hl. Antonius im Zentrum. Er macht einen Besuch bei dem Eremiten Paulus von Theben, und er wird vom Teufel versucht. Diese dritte Schauseite, die Hauptseite des Altars, war selten zu sehen, vermutlich nur am 17. Januar, dem Todestag des Heiligen, und zu besonderen Gelegenheiten.

Im Altar suchte das Volk Halt und Trost zu finden

Bis zur Französischen Revolution befand sich der Altar in Isenheim; um ihn vor der Zerstörung zu bewahren, dann seit 1793 im Collège National in Colmar und seit 1853 in der Kirche des ehemaligen Dominikanerklosters Unterlinden, das zu dieser Zeit in ein Museum umgestaltet wurde. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges – das Elsaß gehörte seit 1871 wieder zum Deutschen Reich – erfolgte aus Sicherheitsgründen eine Auslagerung nach München in die Alte Pinakothek, wo nach ihrer Restaurierung die Tafeln von November 1918 bis September 1919 öffentlich gezeigt wurden, um dann ins erneut französische Colmar zurückzukehren.

Die Ausstellung war stark besucht, nicht zuletzt wohl deshalb, weil der Altar das vom Expressionismus geprägte Kunstverständnis der Zeit ansprach. In Grünewald glaubte man einen Vorläufer der Moderne zu entdecken. Thomas Mann schrieb am 22. Dezember in sein Tagebuch: „Im Ganzen gehören die Bilder zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen.“ Im Isenheimer Altar, einer seiner größten kulturellen Kostbarkeiten, versuchte aber auch ein in einem langen Krieg besiegtes und gedemütigtes Volk Trost und seelischen Halt zu finden.

Grünewalds Œuvre ist vergleichsweise klein. Bei den etwa dreißig erhaltenen Tafeln handelt es sich um Altarbilder. Anders als bei Dürer fehlen weltliche Themen wie Porträt oder Landschaft vollkommen. Auch die Druckgraphik hat Grünewald gemieden. Überliefert sind jedoch etwa dreißig Zeichnungen, fast ausschließlich Naturstudien zu den Tafelbildern. Grünewald arbeitete für die Kirche, die sich auch im Zeitalter der Renaissance und der Reformation noch immer dagegen wehrte, die bildende Kunst in die Welt zu entlassen.

Nach seinem frühen Tod 1528 in Halle an der Saale geriet Grünewald bald in Vergessenheit. Der Isenheimer Altar galt zeitweilig als ein Werk Dürers. 1675 widmete Joachim von Sandrart dem Künstler in seiner „Teutschen Academie“ die erste Biographie. Die Kunsthistoriker befassen sich mit ihm seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts.