© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Kompromißlos liquidieren
Edvard Beneš und der Brünner Todesmarsch im Juni 1945
Gernot Facius

Es ist ein Zeichen guten Willens:  Am 30. Mai werden sich im mährischen Pohrlitz (Pohorelice), nahe der Grenze zu Österreich, Einwohner von Brünn versammeln und dann zu Fuß den 32 Kilometer langen Rückweg antreten, bis zum Mendel-Platz in der mährischen Metropole. Symbolisch sollen die Deutschen wieder in Brünn begrüßt werden. Vor siebzig Jahren waren geschätzte 27.000 von ihnen, überwiegend, Frauen, Kinder und alte Menschen – die meisten wehrfähigen Männer befanden sich in Gefangenschaft, andere wurden in der Brünner Festung Spielberg gefangengehalten – in entgegengesetzter Richtung vertrieben worden. Der „Brünner Todesmarsch“ gilt als eine der grausamsten Etappen der „wilden Vertreibung“ der Sudetendeutschen. 5.200 Tote, diese Zahl beruht auf Studien der 1990er Jahre.   

Rückblende: Am Abend vor Fronleichnam, 31. Mai 1945, gehen bewaffnete Arbeiter der Rüstungswerke Zbrojovka, die noch Anfang April für die deutsche Wehrmacht am Fließband Gewehre produziert hatten, sich jetzt aber als tschechische Patrioten beweisen möchten, zusammen mit „Revolutionsgardisten“ von Haus zu Haus: „Alle Deutschen raus!“ Zwei Stunden werden den Unglücklichen eingeräumt, dann müssen sie mit 15 Kilo Gepäck, „mehr nicht“, antreten. In der Morgendämmerung bewegt sich aus dem Garten des Augustinerklosters der Elendszug auf der Landstraße Nr. 52 in Richtung Österreich. Alle paar Meter ein Posten, das Gewehr griffbereit. Ständig waren die in großer Hitze ohne Wasserversorgung Erschöpften den Kolbenschlägen der tschechischen Bewacher ausgesetzt. 

Die meisten Opfer sterben an Entkräftung, Hunger und Durst, aber etliche Tote gehen auch auf das Konto schießwütiger Begleitmannschaften. Frauen, die nicht mehr weitergehen können, sterben nach einem Genickschuß im Straßengraben. Erschöpfte alte Männer werden zu Tode getrampelt. Hauptorganisator dieses Verbrechens ist der Stabskapitän Bedrich Pokorny, er wechselt später ins Innenministerium, wird Leiter des staatlichen Nachrichtendienstes, im Jahr des „Prager Frühlings“ 1968 begeht er Selbstmord. Pokorny, der erst nach dem Einmarsch der Sowjets in Brünn Ende April 1945 Mitglied der neuen Tschechischen Kommunistischen Partei wird, hatte wie so mancher 1945 an den Gewaltexzessen gegen die Deutschen Beteiligten während des Zweiten Weltkriegs für das Finanzministerium der Protektoratsmacht gearbeitet. Sogar Kontakte zu Reinhard Heydrichs SS-Sicherheitsdienst belasten das Konto des Kollaborateurs, der übrigens zwei Monate nach dem Brünner Todesmarsch bei den Massakern an den Deutschen von Aussig beteiligt war. 

„Der einzige Deutsche, der in Brünn zurückbleiben konnte, war der Naturwissenschaftler Gregor Johann Mendel“, schreibt 1990 der Autor Ota Filip. „Vom Sockel seiner Statue im Klostergarten, in dem er seine weltberühmten Kreuzungsversuche mit Pflanzen machte, sah er seine Landsleute Brünn durch die Kreuzgasse in Richtung Süden verlassen.“ Mehr als 1.700 Menschen seien auf dem Todesmarsch von Brünn nach Österreich ums Leben gekommen, berichtet ein ehemaliges Mitglied des revolutionären Nationalausschusses seinem Landsmann Filip. Das dürfte nach allem, was man heute weiß, untertrieben sein. Allein bei Pohrlitz, hinter einer Akazie am Straßenrand, dahinter ein Kleefeld, liegen in einem Massengrab 890 Tote. Denn denjenigen, die es in die Nähe der österreichischen Grenze geschafft hatten, wurde dort tagelang der Übertritt verweigert. In einer Lagerhalle wurden die Entkräfteten eingesperrt, wo sich zudem auch noch Typhus ausbreitete. „Die sind hier wie die Fliegen gestorben, ohne ärztliche Hilfe, ohne Pfarrer“, zitierte Filip den ehemaligen Stadtchronisten von Pohrlitz. Weitere Massengräber säumen die Straßen bis nach Wien. Der spätere österreichische Finanzminister und Vizekanzler Hannes Androsch (SPÖ) wird als Kind Zeuge der Vertreibung seiner Verwandten aus ihrem mährischen Heimatort Piesling: „Sie gingen in ihrem schwarzen Sonntagsstaat. Zum Abschied sind sie niedergekniet und haben die Türschwelle geküßt.“ Mutter Lisa Androsch stellte ihren Siebenjährigen ans Fenster und sagte: „Schau dir an, was hier passiert. Du darfst es dein ganzes Leben nicht vergessen.“

Beneš hielt zuvor in Brünn eine Hetzrede

Noch heute versuchen Prager Politiker und Historiker das Geschehen als  spontanen Ausbruch des während der deutschen Okkupation angesammelten Hasses kleinzureden. Gegen diese Art Geschichtsschreibung hat sich bereits vor 15 Jahren eine Initiative junger tschechischer Intellektueller (Jugend für interkulturelle Verständigung) verwahrt: „Es war eine gezielt geplante, auch von den politischen Repräsentanten der Stadt Brünn organisierte Aktion.“ Es wurde willfährig vollstreckt, wozu der aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Staatspräsident Edvard Beneš am 16. Mai 1945 vor einer begeisterten Menschenmenge auf dem Prager Altstädtischen Ring aufgerufen hatte: „Es wird notwendig sein (...) kompromißlos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei völlig zu liquidieren.“ 

Vier Tage zuvor hatte er eben in Brünn Gleiches verkündet und dabei an seine berüchtigte Londoner Rundfunkrede vom 27. Oktober 1943 angeknüpft, die zu Massakern an den Deutschen ermunterte: „In unserem Land wird das Ende des Krieges mit Blut geschrieben werden. (...) Die ganze Nation wird sich an diesem Kampf beteiligen, es wird keinen Tschechoslowaken geben, der sich dieser Aufgabe entzieht, und kein Patriot wird es versäumen, gerechte Rache für die Leiden der Nation zu nehmen.“ 

Über diese Aufrufe zu Orgien der Gewalt wurde lange geschwiegen, auch in Brünn. Aufgrund eines umstrittenen, bis heute nicht aufgehobenen „Amnestiegesetzes“ bleiben die Taten ungesühnt. Jetzt, siebzig Jahre danach, hat die mährische Stadt unter dem seit Herbst 2014 amtierenden Oberbürgermeister Petr Vokral ein „Jahr der Versöhnung“ ausgerufen – mit dem „Brünner Lebensmarsch“ als symbolträchtiger Geste.