© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/15 / 29. Mai 2015

Nur fünf Wochen
Der „Fall Gelb“ im Mai 1940: Der Blitzsieg der Wehrmacht gegen Frankreich, die Niederlande und England im Westen
Dag Krienen

In den letzten Wochen nahmen die Medien den 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation zum Anlaß, den Deutschen das ganze Ausmaß ihrer Niederlage vor Augen zu führen, die sie zugleich unisono als „Befreiung“ apostrophierten. Der 75. Jahrestag einer ebenso totalen militärischen Niederlage in demselben Krieg, allerdings einer französischen, fand hingegen kaum Beachtung. Nur ganz verschämt um Mitternacht wurde in einem ZDF-Spartenkanal die 2009 entstandene, sehenswerte Spiegel-TV-Dokumentation über den deutschen Westfeldzug von 1940 gezeigt, den spektakulärsten militärischen Erfolg, den in der Neuzeit eine Militärmacht über einen gleichstarken Gegner erzielt hat.

Wenn überhaupt, ist in der offiziösen Erinnerung meist nur noch der Schlußakt präsent, das „Wunder von Dünkirchen“. Die im Zuge der Operation „Dynamo“ vom 26. Mai bis zum 4. Juni erfolgte Evakuierung von 247.000 britischen und etwa 123.000 französischen Soldaten aus Dünkirchen, aber auch aus anderen Kanalhäfen stellte durchaus eine bemerkenswerte militärische Leistung dar. Die vor den Deutschen flüchtenden Truppen konnten aber kaum mehr als ihr nacktes Leben retten. Sie mußten alle Fahrzeuge, schweren Waffen und Ausrüstung zurücklassen. 

Der Verfasser erinnert sich noch an einen Englandaufenthalt als 13jähriger Schüler. Sein damaliger Gastvater, ein Veteran der Royal Navy, bezeichnete „Dunkirk“ als das schlimmste seiner zahlreichen Kriegserlebnisse. Er habe persönlich mehrere Leute erschießen müssen, um überhaupt eine geordnete Evakuierung möglich zu machen. Im Sommer 1940 war „Dünkirchen“ für die britischen und französischen Soldaten vor allem Teil einer alptraumhaften militärischen Katastrophe, in die sie ihr deutscher Gegner völlig unerwartet und in kürzester Zeit gestürzt hatte. Alles andere war Propaganda.

Das Kräfteverhältnis sprach sogar eher für die Alliierten

Vier Wochen vorher, Anfang Mai 1940, schien der Krieg noch weitgehend nach dem langfristigen Plan der Alliierten zu laufen. In Westeuropa wollten sie, geschützt durch die schwer befestigte Maginot-Linie, in der Defensive verharren und Deutschland wirtschaftlich abdrosseln, um ihm dann 1942 den Todesstoß zu versetzen. So war es dort zunächst beim „Sitzkrieg“ ohne größere Kämpfe geblieben. Man rechnete in Paris und London allerdings damit, daß die Deutschen irgendwann angreifen würden, um die Abdrosselung zu unterlaufen. 

Nach der Erbeutung deutscher Planungsunterlagen im Januar 1940 gingen die Alliierten von einem Vorstoß nach Holland und Nordbelgien aus. Diesem sollte begegnet werden, indem die mobilen Verbände der Franzosen sowie die durchweg motorisierten Divisionen der Briten in Belgien einrückten und dort in Verlängerung der Maginot-Linie eine Stellung an der Maas und der Dyle (Linie Namur–Wavre–Antwerpen) bezogen, an der der deutsche Vormarsch gestoppt werden sollte.Bei einem derartigen frontalen Aufprall drohte an der Westfront ein erneuter Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg, in dem auf Dauer die materiell überlegene Seite obsiegen würde. 

Überhaupt stand die deutsche Seite vor dem Problem, wie sie erfolgreich einen Großangriff durchführen konnte, für den damals eine erhebliche zahlenmäßige Überlegenheit des Angreifers als notwendig vorausgesetzt wurde. Diese Voraussetzung war aber nicht erfüllt, weder im Hinblick auf die Zahl der vorhandenen Mannschaften noch der einsetzbaren Divisionen. Hier herrschte auf dem Kontinent zwischen den Deutschen und den Alliierten Anfang Mai 1940 praktisch Gleichstand. Das galt auch für die Panzer und die Luftstreitkräfte, während es bei der Artillerie sogar eine deutliche Überlegenheit der Westmächte gab. 

Doch verstanden es die deutschen Militärs sehr viel besser als ihre Gegner, die neuen Waffensysteme zu organisieren und taktisch und operativ einzusetzen. Ein französischer General stellte später etwas überspitzt fest, daß beide Seiten je etwa 3.000 Panzer besaßen, die Deutschen diese aber in drei schlagkräftige Gruppen zu je 1.000 zusammenfaßten, die Alliierten hingegen in 1.000 Gruppen zu je 3 über die ganze Front verteilten. Auch die deutsche Luftüberlegenheit war vor allem das Ergebnis einer verfehlten Organisation und Einsatzführung der Armée de l’Air und der Zurückhaltung starker Verbände der Royal Air Force auf der Insel, nicht aber eines nicht existierenden Flugzeugmangels bei den Westmächten. Der „Oxford Companion to Military History“ (2001) erklärt mittlerweile den deutschen Triumph von 1940 nicht mehr als das Ergebnis überlegener Zahlen oder Ausrüstung, sondern einer weit effektiveren Art der Verwendung der vorhandenen Mittel und Ausnutzung der gegnerischen Fehler.

Das galt auf organisatorischer und taktischer Ebene, aber auch auf operativer. Der damalige Stabschef der Heeresgruppe A, General Erich von Manstein, arbeitete einen Plan aus, der die überlegenen deutschen Fähigkeiten bei der Beherrschung der neuen Kriegsmittel dazu nutzen wollte, einen schnellen und entscheidenden Schlag zu führen und so langwierige blutige Abnutzungsschlachten zu vermeiden. Die Masse der gepanzerten und motorisierten deutschen Verbände sollte durch die nur schwach verteidigten Ardennen auf den Drehpunkt der alliierten Armeen bei Sedan vorgehen, dort durchbrechen, ins feindliche Hinterland vorstoßen und schließlich die nach Belgien und Holland vorgerückten Alliierten im Rücken fassen und vernichten. 

Der später von Churchill als „Sichelschnitt“ bezeichnete Plan war zweifellos gewagt, so gewagt, daß die deutsche Heeresleitung Manstein von seinem Posten abberief. Doch bot er den einzigen Ausweg aus dem strategischen Dilemma, das bei einem neuen, sich endlos hinziehenden Stellungskrieg drohte. Deshalb machte Generalstabschef Halder ihn sich schließlich zu eigen. Daß auch Hitler sich von der Idee angetan zeigte, machte die Sache leichter. Der am 10. Mai auf breiter Front, aber mit eindeutigem Schwerpunkt geführte deutsche Angriff entwickelte sich überaus erfolgreich; nach der Überwindung der Maas am 13. Mai sogar noch viel erfolgreicher als selbst von deutscher Seite vorhergesehen. 

Am 20. Mai erreichten die deutschen Panzer westlich von Amiens bei Abbeville die Kanalküste und schwenkten anschließend nach Norden ein. Hitler und ein Teil der Generäle machte das schnelle deutsche Vordringen allerdings nervös, fürchteten sie doch alliierte Gegenangriffe gegen die deutschen Flanken. Hitler erteilte deshalb mehrfach Haltebefehle für die Panzer, um die Infanterie aufrücken zu lassen. Die Panzerkommandeure, vor allem Guderian, verstanden es zunächst aber immer wieder, diese Befehle zu unterlaufen.

Hitlers Haltebefehl vom 24. Mai für die kurz vor Dünkirchen stehenden Panzerspitzen ist, wie der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser gezeigt hat, vor allem vor diesem Hintergrund zu sehen. Dem zuvor mehrfach düpierten „Führer“ ging es allein darum, gegenüber den Militärs endlich sein Primat auch in der Operationsführung durchzusetzen. Das gelang ihm diesmal. Militärische Gründe wie das angeblich sumpfige Gelände, die Schonung der Panzerwaffe für den zweiten Teil des Feldzuges oder die Gefahr eines gegnerischen Flankenangriffes lagen nicht vor bzw. wurden erst später vorgeschoben. Görings Versprechen, die Luftwaffe könne die Aufgabe allein übernehmen, spielte ebensowenig eine Rolle wie etwa ein politisches Motiv, die Engländer durch Schonung zu einem Friedensschluß zu bewegen.

Die Gefangennahme ihres Expeditionsheeres wäre dazu das bessere, wenn auch nicht hundertprozentig sichere Mittel gewesen. Daß dies aufgrund des Haltebefehls nicht gelang, war allerdings aus deutscher Perspektive nur ein kleiner Schönheitsfehler. Die Deutschen hatten einen überwältigenden Vernichtungssieg über die westlichen Gegner, zudem mit nur geringen eigenen Verlusten (rund 21.000 Tote und Vermißte), errungen. 1,2 Millionen feindliche Soldaten waren gefangengenommen worden. 

Nachdem die britische Expeditionsarmee ihre gesamte schwere Ausrüstung hatte zurücklassen müssen, galt sie nach deutscher Terminologie ebenso als „vernichtet“ wie die komplette niederländische und belgische Armee, die am 15. und am 28. Mai die Waffen gestreckt hatten. Auch fünf von zehn französischen Armeen waren mehr oder weniger vollständig zerschlagen worden, darunter praktisch alle motorisierten Verbände, die Elite der Streitkräfte.

Dem neuen französischen Oberkommandierenden Maxime Weygand gelang es zwar noch, an der Somme eine neue Verteidigungslinie zu organisieren und ein Kampfverfahren einzuführen, das ein schnelles Durchstoßen dieser Linie verhinderte und ein etwas zeitaufwendigeres Niederringen erzwang. Doch fehlten ihm die Reserven, um Durchbrüche zu verhindern, die dann den deutschen Panzerdivisionen den Weg zu tiefen Vorstößen ins Hinterland eröffneten. 

Dünkirchen war nur kleiner Mollton der Operation

Die am 5. Juni, einen Tag nach dem Fall von Dünkirchen, begonnenen deutschen Operationen gegen das französische Kernland (Fall Rot) führten so ebenfalls rasch zum Erfolg. Am 14. besetzten deutsche Truppen kampflos Paris. Die Meldungen darüber erstaunten und faszinierten im Deutschen Reich nicht nur die Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs, denen dieses Kriegsziel wahrhaft phantastisch anmutete wie die am 16. Juni mit wenigen Dutzend Gefallenen erkaufte Eroberung Verduns, der „Knochenmühle“ von 1916 mit ihren Hunderttausenden von Toten. Am Tag darauf suchte schließlich der neue französische Regierungschef Marschall Pétain, im Ersten Weltkrieg gefeierter Verteidiger eben dieses Verdun, um Waffenstillstand nach. Dieser wurde am 22. Juni unterzeichnet und trat – aus Rücksicht auf Italien, das am 10. Juni noch schnell in den Krieg eingetreten war – am 25. Juni in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt waren rund 60 Prozent Frankreichs, darunter die ganze Nord- und Westküste von deutschen Truppen besetzt. 

Das „Wunder von Dünkirchen“ hatte das deutsche „Wunder“ im Westen nicht verhindern können. Hitler, dem die Propaganda zu Unrecht das Verdienst daran zuschrieb, erreichte damals den Zenit seines Ruhmes. Den grandiosen Sieg der deutschen Streitkräfte politisch zu nutzen, verstand er indes nicht. Erst dadurch gewann für die Briten „Dünkirchen“, das kleine Stückchen Glück in einem großen Unglück, einen gewissen Wert, denn die Verfügbarkeit der damals über den Kanal geschafften Berufssoldaten erleichterte ihnen zweifellos in den späteren Phasen des Krieges die Aufstellung neuer Heeresverbände erheblich.