© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Ende des Fortschritts
Türkei: Möchtegern-Sultan Erdogan muß bei der Parlamentswahl um sein Lebenswerk bangen
Marc Zoellner

Für Recep Tayyip Erdogan wird es dieser Tage besonders spannend. Nicht wenig steht für ihn persönlich, aber auch für die von ihm unterstützte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) auf dem Spiel, wenn am 7. Juni die rund 53 Millionen Wahlberechtigten der Türkei aufgerufen sind, über ein neues Parlament zu bestimmen. Und seinen Wählern hatte Erdogan bereits im Vorfeld Großes versprochen: Denn die Türkei, so Erdogan, solle bereits im Jahre 2023, dem hundertsten Jahrestag der Staatsgründung, zu den zehn wirtschaftsstärksten Industrienationen der Welt gehören. Auch mit den Kurden wolle er sich bis dahin ausgesöhnt haben, die Türkei als neue Großmacht die Geschicke des Nahen Ostens bestimmen, und er selbst, meint Erdogan, werde dann noch immer Präsident seines Landes sein.

Regierung verfehlte einen Großteil ihrer Zielsetzungen 

„Doch damit die Türkei ihre Ziele für 2023 einhalten kann“, appelliert der dreimalige Ministerpräsident im Vorfeld der Wahl an seine Untertanen, habe das Land „ein neues System anzunehmen“. Nämlich Erdogans System und mit diesem die Vision einer prächtigen Präsidialrepublik, in der das Staatsoberhaupt, also Erdogan selbst, weit über dem Parlament stünde und im Notfall auch im Alleingang gegen dieses Politik betreiben könnte.

Denn bisher ist die Türkei unter Erdogan noch fernab der Zielsetzung seiner AKP für 2023: Seine Außenpolitik scheint eine einzige Katastrophe; im Nahen Osten sieht sich die Türkei ebenso wie in Europa und dem transatlantischen Bündnis zunehmend isoliert. Die türkische Lira sinkt ins Bodenlose und verlor auf dem Devisenmarkt allein in den vergangenen zwei Jahren fast die Hälfte an Wert. Das Bruttoinlandsprodukt der Türkei, welches vor gut fünf Jahren noch hervorragende zwölf Prozentpunkte Wachstum verzeichnete, dümpelt derzeit bei zweieinhalb Prozent umher. Und auch die Kurden wollen nicht so recht mit ihrem Präsidenten reden.

Sein Umbruch sei jedoch „unumgänglich“, fordert Erdogan in seinen Wahlkampfreden, die er aufgrund der Neutralitätspflicht seines Amtes eigentlich nicht halten dürfte. „Die Errichtung einer neuen Türkei ist unumgänglich“, ebenso „eine neue Verfassung und, so Gott will, ein präsidiales System“. Dieses, spricht Erdogan, wolle er notfalls sogar mit der AKP allein durchsetzen, sofern die Konservativen die notwendige Zweidrittelmehrheit erringen würden. Daß zur Wahl im Juni gerade der kleine kurdische David den großen Goliath Erdogans zu Fall bringen könnte, schmeckt Erdogan dabei überhaupt nicht.

Gemessen an den Anforderungen für Bewerber, ist das Wahlsystem der Türkei weitaus strenger als jenes beispielsweise in Deutschland. Die kleinasiatische Republik ist in 85 Wahlkreise eingeteilt. Wer in einem dieser Wahlkreise als Direktkandidat für einen der 550 Sitze der Großen Nationalversammlung bestimmt werden möchte, benötigt nicht nur die relative Mehrheit der Wahlstimmen seiner Provinz. Auch die von ihm vertretene Partei muß landesweit die durchaus als gravierende Hemmschwelle gedachte Zehnprozenthürde überwinden.

Erst dann ist die Wahl des entsprechenden Direktkandidaten zulässig, und erst dann werden auch die restlichen Sitzplätze der Provinz anteilig an die entsprechende Partei ausgeschüttet. Stimmenanteile der Parteien, welche an der Sperrklausel scheitern, werden hingegen direkt an die landesweiten Wahlsieger verteilt; ihre theoretisch errungenen Direktmandate erhält der jeweils zum Einzug ins Parlament berechtigte Nächstplazierte.

Diese Sperrklausel soll nicht nur personelle Abspaltungen, wie sie im Politikbetrieb der Türkei mit erstaunlicher Regelmäßigkeit vorkommen, abschrecken. Sie dient vor allem auch der Kontrolle der rund 50 ethnischen Minderheiten des Dardanellenstaats. Mit Griechen, Juden und Armeniern werden gerade einmal drei davon gesetzlich anerkannt.

 Die zahlenmäßig größte ethnische Minderheit der rund 15 Millionen Kurden jedoch, die vorrangig in den 17 im Osten und Süden gelegenen Wahlkreisen sowie in Istanbul beheimatet sind, zählen juristisch nicht als eigenes Volk.

Mit diesem Passus scheiden sie auch aus bei der Vergabe von Sitzrechte an die Minderheiten der Türkei; in vergangenen Wahlen blieb ihnen überdies lediglich die Möglichkeit, anstelle einer Partei formell unabhängige Kandidaten ins Rennen zu schicken, da diese von der Zehnprozentklausel nicht betroffen sind. 

Trotzdem gelang es der kurdischen Minderheit, aber auch sozialistischen Kandidaten, in der Vergangenheit, auf diesem Wege mehrere Achtungserfolge zu erzielen. So zogen bei den Parlamentswahlen von 2007 für die programmatisch weit links stehende, kurdennahe Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) gleich 20 der 66 von ihr unterstützten Unabhängigen in die Große Nationalversammlung ein.

Opposition schließt Kooperation mit AKP aus

Die Demokratische Partei der Regionen (DBP), welche sich als Nachfolgeorganisation der durch das türkische Verfassungsgericht im Dezember 2009 verbotenen DTP betrachtete, konnte diesen Erfolg bei den nächsten Wahlen im Juni 2011 sogar auf 36 gewählte Vertreter steigern.

Den Kurden geht dies allerdings noch nicht weit genug: Unter dem Sammelbecken der Demokratischen Partei der Völker (HDP) treten diese 2015 erstmals geschlossen als Partei zur Wahl an. Eine Partei, die diesmal nicht nur um die Stimmen der Kurden allein wirbt.

Sich als Regenbogenkoalition verstehend, möchte sich die HDP zur Wahl auch anderen, im politischen Spektrum interessanten Klientelen öffnen: den ethnischen und religiösen  Minoritäten des Landes, den traditionell links orientierten Arbeiterschichten, den Homosexuellen und besonders den etwa 2,8 Millionen Diasporatürken, von denen gut die Hälfte in Deutschland lebt, welche wiederum zu einem Drittel aus Kurden besteht. „Wenn jeder in Deutschland wahlberechtigte Kurde für die HDP stimmt, können wir die Sperrklausel mit Leichtigkeit überwinden“, erklärte der Berliner Aktivist Bahtiyar Gurbuz kürzlich der kurdischen Nachrichtenagentur Rudaw. Auch Selahattin Demirtas, der Vorsitzende der HDP, zeigt sich diesbezüglich optimistisch: „Deutschland wird für unseren Sieg entscheidend sein.“

Neueste Umfragen, welche die AKP nur noch bei 40, die HDP hingegen schon bei elf Prozent sehen, scheinen den Erfolg dieser Strategie zu bestätigen. Vom schleichenden Wirtschaftswachstum der Türkei sowie Erdogans machtpolitischen Expansionsplänen profitieren überdies auch die beiden anderen großen Oppositionsparteien. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP), welche derzeit mit 135 Abgeordneten im Parlament vertreten ist, käme aktuellen Erhebungen zufolge erneut auf 26 Prozent. Die Nationalisten der MHP auf über 17 Prozent.

Wie die HDP so schließen auch CHP und MHP eine Koalition mit  der AKP kategorisch aus. „Diese Nation hat Sie nicht zum Präsidenten ernannt, damit Sie Chaos im Land anrichten können“, attackierte der CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu Recep Erdogan. „Sie haben die Fähigkeit, dieses Land zu führen, verloren.“ Eine Verfassungsänderung zur Stärkung Erdogans werde es mit Kiliçdaroglu nicht geben. Daß Erdogan die Wahl noch einmal für sich entscheiden wird, steht freilich außer Frage. Doch im Parlament werden seiner AKP anschließend die Hände gebunden sein. Falls am Tag des Urnengangs nicht noch ein Wunder geschehen sollte, wird sein Projekt „Türkei 2023“ bereits 2015 Geschichte sein.