© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Weckruf gegen vaterlose Gesellschaft
Politische Streitschrift: Wirtschaftsliberale Autoren fordern die Rückkehr zu den Grundprinzipien Ludwig Erhards / Wohlstand für alle ohne Umverteilungspolitik
Christian Dorn

Ein System, das wie heute die Rente besteuert, ist „pervers“. Die Philippika Wolf-Dieter Zumpforts (FDP), Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung, ging mit dem „Umverteilungsstaat“ hart ins Gericht bei der Vorstellung des Sammelbandes „Ludwig Erhard jetzt: Wohlstand für alle Generationen“. Dessen Titel erinnert nicht zufällig an jene Buchreihe „Philosophie Jetzt“, die schon durch ihren Herausgeber Peter Sloterdijk mediale Aufmerksamkeit erregte. Konzipiert wurde die neue Streitschrift von Ludwig Erhards erster Pressereferentin, Luise Gräfin von Schlippenbach. 

Mit ordnungspolitisch klaren Vorstellungen kritisiert die rüstige 93jährige den jahrzehntelangen Mißbrauch des Begriffes Soziale Marktwirtschaft. Tatsächlich stehe die heutige Politik dem Verständnis Erhards „diametral“ entgegen. Dessen Grundsatz – sowenig Staat wie möglich, soviel Soziales wie nötig – habe sich in seiner ursprünglichen Begrifflichkeit gezeigt, da Erhards Konzept eigentlich die „freie Marktwirtschaft“ gewesen sei, denn nur eine freie Gesellschaft, so Erhards frühere Mistreiterin, könne auch am Ende eine soziale sein.

Entsprechend verweist auch der Vermögensverwalter und Börsenaltmeister Gottfried Heller darauf, daß es Erhard nicht nur um ein Wirtschafts-, sondern ein Gesellschaftsmodell gegangen sei. Erhard habe den Staat in der Rolle eines Schiedsrichters gesehen, der auf die Einhaltung der Regeln achtet und Regelverstöße ahndet, aber nicht selbst zum Mitspieler wird. 

Erhard wird als „netter Sozialonkel mißbraucht“

Alarmierend erscheinen daher die heutigen Befunde: Im Ergebnis hat derzeit weniger als die Hälfte der Deutschen noch eine positive Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft. Sichtbarster Ausdruck dieser Fehlentwicklung sei die staatliche Abgabenquote von knapp 50 Prozent. Zu Erhards Zeiten, so Heller, sei die Steuer- und Sozialabgabenquote nur halb so hoch gewesen, doch bereits dieser Satz sei für den Vater des Wirtschaftswunders zu hoch gewesen.

In Erhards Augen, der die Deutschen zu Teilhabern machen wollte, nicht zu Staatsabhängigen, dürfte auch die heutige Vermögensstruktur als katastrophal gesehen werden. So habe Deutschland unter den Industrieländern „die mit Abstand schlechteste Vermögensstruktur“, weil die Deutschen außer in Immobilien fast ausschließlich in Geldwerten investierten, die heute fast zinslos sind. Aktienkauf und -besitz würden „stiefmütterlich“ behandelt. Frankreich sei hier vorbildlich, da es mit Steuersenkungen Anreize schaffe für die Investition in kleinere und mittlere Unternehmen.

Wer 50.000 Euro übrighabe, könne diese bedenkenlos in passiv verwaltete Indexfonds (ETF) investieren, die etwa die Dax-Werte oder die weltweit 100 wichtigsten Unternehmen repräsentieren und – trotz einprozentiger Provision – garantiert gewinnbringend seien. Die Verletzung ordoliberaler Prinzipien offenbart sich auch in der Notenbankpolitik. Der Wertpapieranalyst Ulrich Horstmann sieht in der Europäischen Zentralbank (EZB) ein „Währungsregime“, das eine „klare Umverteilungspolitik“ betreibe. So nennt denn auch Martin Zeil – anders als zu seiner Zeit als bayrischer FDP-Wirtschaftsminister – die EZB-Politik unverblümt einen „Vertrag zu Lasten Dritter“.

In diesem Sinne dürfte auch die Bürokratie eines Mindestlohns kaum ein taugliches Mittel sein, um dem Erhard-Modell „Wohlstand für alle“ nachzueifern. So berichtet der frühere Chef der Wirtschaftswoche, Roland Tichy, von der neuen Verpflichtung der Zeitungsverleger, die Schrittzahl eines jeden Zustellers zu messen. Dies könnte dazu führen, daß entlegene Gegenden künftig von der Zeitungszustellung abgeschnitten würden. Auch in Joachim Gaucks jüngster Israel-Rede habe er Erhards Namen vermißt, da die Annäherung Deutschlands an Israel maßgeblich Erhards Verdienst gewesen sei, so Tichy. Erhard sei ein „großer Mythos, alle berufen sich darauf“, gleichzeitig sei er ein großer Unbekannter, der heute als „netter Sozialonkel mißbraucht“ werde. Tatsächlich „würde er als Zigarrenraucher hier wohl sofort verhaftet werden“. Einzig Neuseeland, so zeigt der Publizist Günter Ederer in seinem Beitrag, sei heute ein „Reformparadies“ nach den Vorstellungen Erhards. 

Mutig erscheint, daß auch Adenauer-Enkel Stephan Werhahn zu den Autoren des Sammelbandes gehört: Hatte doch nicht zuletzt Konrad Adenauers Diktum („Kinder kriegen die Leute sowieso“) in der Frage der Rentenreform – das gegen Erhards Willen durchgesetzte Umlageverfahren – zum Zerwürfnis zwischen Kanzler und Wirtschaftsminister geführt. Vielleicht lag Adenauer nicht ganz falsch: Der Generationenvertrag hält trotz Einschnitten noch immer – viele private Rentenmodelle geraten mit der Finanz- und Eurokrise in Existenznot.

Ulrich Horstmann (u.a.): Ludwig Erhard jetzt – Wohlstand für alle Generationen. Finanzbuch Verlag, München 2015, 160 Seiten, broschiert, 6,99 Euro