© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Es zeigt sich, daß es in der Bevölkerung ein bemerkenswert großes Maß an Intoleranz gegenüber Meinungen gibt, die den eigenen Vorstellungen von einer moralisch angemessenen Haltung widersprechen. (…) Der Gedanke, daß das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Meinungsfreiheit auch für abseitige Meinungen, für Tabubrüche und moralisch vielleicht schwer erträgliche Positionen gilt, liegt vielen Menschen offensichtlich fern.“ Diese Einschätzung findet sich in einer erst zwei Jahre alten Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD-Umfragen 11005, März 2013). Auf die Frage, ob man heute in Deutschland seine Meinung frei äußern könne, antworteten 30 Prozent, daß es besser sei, vorsichtig zu sein. Neun Prozent meinten, dies sei nur mit Einschränkungen möglich.


Wie garstig die Zeiten tatsächlich sind, zeigt sich in diesen Wochen an zwei Fallbeispielen: Da verliert die Ratgeber-Kolumnistin einer Regionalzeitung ihren Job, und eine junge Bloggerin sieht sich gezwungen, ihr Netzportal einzustellen – in beiden Fällen wegen unliebsamer Meinungen. Vorausgegangen war jeweils ein Wutsturm der Intoleranten in den immer noch fälschlich als „sozial“ bezeichneten Netzwerken.


„Correctnesswächter wissen sich der gemeinen Verpflichtung zur Beachtung von Persönlichkeitsrechten enthoben. Sie nehmen sich die illiberale Freiheit, unangenehme Ansichten, statt sie zu widerlegen, mittels Disqualifikation der moralischen Integrität ihrer Subjekte zu bekämpfen. Auch in kleinen, politisch marginalen Zusammenhängen ist das inzwischen eingerissen.“ (Vortrag des Philosophie-Professors Hermann Lübbe „Über Moral als Mittel der Meinungskontrolle“, 2006)


Wir leben in einer totalitären Demokratie. Der Begriff stammt von dem israelischen Historiker Jacob L. Talmon (1916–1980). Im Unterschied zu einer liberalen Demokratie ist eine totalitäre nach Talmon durch einen politischen Messianismus gekennzeichnet. „Die totalitäre Demokratie folgt der zwanghaften Maxime des ‘so-und-nicht-anders’ und stützt sich auf eine einzige politische Wahrheit; beides macht ‘totalitäres Denken’ in besonderem Maße aus. Sie erfordert den politischen Messianismus gewissermaßen als ‘Motor’, um Energien für die eigene Ideologie und vor allem deren Durchsetzung zu gewinnen“, schreibt Hans Otto Seitschek in seiner Untersuchung über das Konzept des politischen Messianismus (2005). Daß Talmon heute selbst in der Totalitarismusforschung weitgehend vergessen ist, spricht Bände.