© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Im Windschatten des Krieges
Die Armenier-Vertreibungen kulminierten im Juni 1915 in Massenmorden in Ostanatolien
Jan von Flocken

Die wilde Deportation der Armenier im Osmanischen Reich kulminierte vor hundert Jahren im gezielten Massenmord. Am 10. Juni 1915 fielen fast 25.000 Armenier den Kugeln von Exekutionskommandos der türkischen Armee zum Opfer. Das Geschehen in der Kemah-Schlucht unweit der ostanatolischen Stadt Erzincan bildete den ersten schaurigen Höhepunkt einer Politik, die seit dem Frühjahr 1915 umgesetzt wurde (JF 12/15).

Die osmanische Regierung begann im November 1914 einen Konflikt mit Rußland und trat damit in den Ersten Weltkrieg ein. Eine großangelegte Offensive im Kaukasus scheiterte jedoch kläglich zur Jahreswende 1914/15. Nach einem erfolgreichen russischen Gegenschlag argwöhnte die Führung in Konstantinopel, daß an diesem mit großen Gebietsverlusten verbundenen Debakel ein möglicher Verrat durch Armenier schuld war. Tatsächlich hatten etliche Armenier die Zarenarmee in einer trügerischen Hoffnung auf staatliche Unabhängigkeit unterstützt, es kämpften auch armenische Freiwilligenbataillone auf seiten der Russen. Doch die Mehrheit dieser Volksgruppe verhielt sich loyal zum türkischen Staat.

Im Machtbereich des Sultans lebten damals etwa 1.845.000 christliche Armenier. Wobei dieser Sultan durch die Revolution der „Jungtürken“ 1908 weitgehend entmachtet worden war. Die jungtürkische Bewegung unter Führung von Enver Pascha war einerseits durchaus modern und strebte liberale Reformen nebst einer konstitutionellen Monarchie an, andererseits wollte sie ein Reich auf rein islamischer Grundlage errichten, in dem es für religiöse Minderheiten keinen Platz mehr geben sollte.

Anfang 1915 wurden zunächst sämtliche Soldaten und Offiziere armenischer Herkunft entwaffnet und teilweise interniert oder hingerichtet. Dem folgte am 27. Mai 1915 ein Deportationsgesetz, wonach die armenische Bevölkerung aus ihren vor allem in Anatolien und an der Mittelmeerküste liegenden Wohngebieten in die Wüste von Mesopotamien zu vertreiben sei. Diese Deportationen sollten so ablaufen, daß sie zum Tod möglichst vieler Armenier durch Hunger, Seuchen und direkte Gewalt führten. Der Innenminister Talaat Pascha sorgte dafür, daß dieses Dekret mit exemplarischer Härte durchgesetzt wurde. Es begann ein systematischer Vernichtungsfeldzug gegen die armenische Bevölkerung.

Maßregelungen der Türken wertete Berlin als Gefahr 

Wie viele Menschen vor hundert Jahren den Tod fanden, ist bis heute nicht exakt zu ermitteln. Wenn man in Rechnung stellt, daß etwa 250.000 Armeniern die Flucht vor den Mordkommandos ins Ausland gelang und zirka 200.000 es vorzogen, zum Islam zu konvertieren, so könnte die Zahl der Opfer sich im Bereich von etwa einer Million bewegen.

Wie diese Geschehnisse moralisch einzuordnen sind, darüber dürfte heute Einmütigkeit bestehen. Die politisch-historische Bewertung sollte indes nicht die Angelegenheit fremder Parlamentarier sein, sondern in erster Linie der Türken und Armenier selbst. Denn das semantische Prinzipiengerangel über die Frage, ob es sich dabei um einen Völkermord handelte oder nicht, kommt ebenso zynisch wie lächerlich daher. Macht es das Geschehen weniger grauenvoll, wenn man es „nur“ als Massenmord bezeichnet? Auch juristische Belange sind eher unerheblich. Die Hauptverantwortlichen für das Armenier-Drama wurden bereits 1919 von türkischen Gerichten (in Abwesenheit) zum Tode verurteilt.

In der Bundesrepublik mehren sich heute Stimmen wie jene des Journalisten Jürgen Gottschlich (JF 12/15), die auch für dieses Unglück eine deutsche Haupt- oder zumindest Mitschuld herbeikonstruieren. Tatsächlich hatten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn sich seit 1914 mit der Türkei verbündet, die Verfolgung und Vertreibung der Armenier wurde in Berlin und Wien zur Kenntnis genommen. Da das Osmanische Reich aber ein souveräner Staat und keine Kolonie war, unterlagen die inneren Angelegenheiten nicht dem Einfluß der militärischen Alliierten. Deren Einfluß beschränkte sich auf geringfügige Wirtschafts- und Waffenhilfe sowie die Entsendung einiger tausend kampferprobter Soldaten und Offiziere.

Die Bedeutung der Türkei als Kriegsfaktor stieg zudem 1915 enorm. Seit April versuchten die Westmächte, durch eine Eroberung der Halbinsel Gallipoli nach Konstantinopel vorzustoßen (JF 9/15 und JF 18/15) und dann von Süden aus die deutsch-österreichische Front aufzurollen. Eine tödliche Gefahr drohte, die durch den Kriegseintritt Italiens auf seiten der Westmächte Ende Mai 1915 verschärft wurde. Österreich-Ungarn mußte dadurch Hunderttausende Soldaten von der ohnehin geschwächten Ostfront abziehen. Alles kam nun darauf an, daß die Türken militärisch durchhielten. In dieser Situation wurden Maßregelungen oder gar Drohungen wegen der Armenierfrage in Berlin als schwerer politischer Fehler eingeordnet. 

Die bisher wenig problematisierte historische Parallele im Zweiten Weltkrieg drängt sich geradezu auf: 1941 verbündeten sich Großbritannien und die USA eng mit dem mörderischen Stalin-Regime, obwohl dessen Greueltaten hinlänglich bekannt waren. Während des Krieges wurden im Sowjetreich ganze Völkerschaften unter grausamen Umständen deportiert, wobei Hunderttausende ums Leben kamen. Erinnert sei an das Schicksal der Krimtataren, der Kalmücken und der Wolgadeutschen. Selbst als der Mord an Zehntausenden polnischen Kriegsgefangenen – immerhin Verbündete der Westmächte – in Katyn und anderswo 1943 ruchbar wurde, blieben Proteste aus. Diese Verbrechen wurden sogar noch nach Kräften vertuscht und verschleiert. Dabei hätten die USA und Großbritannien anders als das Deutsche Reich 1915 über genügend Druckmittel verfügt, um Stalins Mörder zu zügeln. 

Foto: Überreste der in der syrischen Wüste 1915 umgekommenen deportierten Armenier: Der Tod möglichst vieler war einkalkuliert