© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/15 / 05. Juni 2015

Deutsche Germanisten sind nur an Veitel Itzig interessiert
Gustav Freytag als „schlesischer Grenzgänger“: Ein Tagungsband belegt das große Interesse in Polen an dem deutschen Erfolgsschriftsteller des 19. Jahrhunderts
Konrad Faber

Ausgerechnet in Polen findet jener in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hochgerühmte deutsche Dramatiker, Journalist und habilitierte Kulturhistoriker Gustav Freytag (1816–1895) noch eine gewisse Beachtung. Deshalb fand in seinem schlesischen Geburtsort Kreuzburg (Kluczbork) im Mai 2013 eine Freytag gewidmete wissenschaftliche Tagung statt, deren Ergebnisse ein Germanist der Universität Breslau im vorliegenden Sammelband präsentiert. 

In Deutschland ist Freytag dagegen schon lange verfemt und vergessen. Tugendwächter der FAZ skandalisierten 1977 die geplante Verfilmung seines bedeutendsten Werkes „Soll und Haben“ durch Rainer Werner Fassbinder. Denn dieser große und vielgelesene Roman von 1855, ein Vorläufer der „Buddenbrooks“ mit positivem Ausgang, welcher als bürgerliche Realismusstudie das deutsche Volk bei der Arbeit zeigen sollte, gilt als „antisemitisch“ kontaminiert. Schlagend dokumentiert dies die Düsseldorfer Germanistin Sybille Schönborn, welche „Soll und Haben“ eigentlich nur als Folie benutzt, um ein ungedrucktes, epigonenhaftes Romanmanuskript zweifelhafter Qualität des kaum bekannten jüdischen Autors Arthur Silbergleit auf Freytags Kosten zu promoten. 

Der wütende Polenfeind aus Schlesiens Grenzregion

Natürlich kommt bei Schönborn gleich mehrfach der übliche denunziatorische Hinweis auf den vorgeblichen „Antisemitismus“ Freytags. Ob der Verfasserin bewußt ist, daß Freytag seinerzeit als ein sehr liberaler Politiker und Journalist bekannt war? Möglicherweise blieb ihr gleichfalls unbekannt, daß eine der drei Ehefrauen Freytags jüdischer Herkunft war oder daß neben dem negativ gezeichneten Veitel Itzig in „Soll und Haben“ durchaus positiv gezeichnete Juden wie etwa der sympathische Gelehrte Bernhard Ehrental vorkommen? Aber gerade der Politiker Freytag, übrigens ein „Stockpreuße“, ist für die im Tagungsband vertretenen deutschen Germanisten eine völlig unbeachtete Größe. Sie interessiert vielmehr sein literarischer Briefwechsel mit dem Germanisten Wilhelm Scherer und ähnlich Aufregendes.

In Polen war, wie man den Beiträgen einiger polnischer Literaturhistoriker erstaunt entnehmen kann, das Interesse für den als wütenden Polenfeind betrachteten Freytag ungleich größer. Der Romancier Jozef Ignacy Kraszewski, vom Schaffen her vielleicht am ehesten sein polnisches Pendant, hat Freytag sogar auf seine Art geschätzt. Gleichfalls überraschend für den deutschen Leser, meinten immer wieder manche polnischen Freytag-Forscher hinter dem verbissenen Polenfeind einen Deutschen mit verdrängten slawischen Wurzeln zu erblicken. Dies ist gar nicht so unlogisch, entstammten doch selbst einige der wütendsten Nationalpolen des 19. Jahrhunderts ursprünglich deutschen Familien. Insofern ist es wenig erstaunlich, wenn man sich ab 1989, und gerade in Freytags Heimat Schlesien, auf diesen bedeutenden Schlesier wieder zu besinnen begann. 

Spannend zeigen die beiden polnischen Germanisten Gabriela Dziedzic und Rafal Biskup, wie sich hier Neubesinnung auf einen bislang nicht präsenten schlesischen Landsmann und unveränderte Ablehnung alles Deutschen überschnitten. Beispielsweise durfte trotz eines entsprechenden Stadtratsbeschlusses von 1995 immer noch keine Gedenktafel in deutscher Sprache am Geburtshaus des Dichters in Kreuzburg angebracht werden. Ungeachtet dessen, in Polen beschäftigt man sich immerhin mit jenem „schlesischen Grenzgänger“, selbst wenn Herausgeber Biskup am Schluß zur melancholischen Erkenntnis kommt, das Werk von Freytag sei wohl kaum zur gemeinsamen Identitätsfindung von Polen und Deutschen als Schlesier geeignet.

Der vorliegende Sammelband offenbart nüchtern, daß es gut ist, wenn wenigstens die Polen sich noch mit Gustav Freytag beschäftigen, indem man ihn als „schlesischen Grenzgänger“ irgendwie für sich zu reklamieren sucht bzw. zumindest suchte. In Deutschland hat man nämlich weder für den großen Schriftsteller noch für den deutschen Patrioten und liberalen Denker Freytag irgendeine Verwendung.