© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Eine Partei taumelt
AfD: Nach der Absage des für das Wochenende geplanten Parteitages scheint die Zukunft der Eurokritiker ungewisser denn je
Marcus Schmidt

Der fortwährende Streit in der Alternative für Deutschland (AfD) läßt sich anschaulich mit einem Ausspruch des britischen Premierministers Lord Palmerston beschreiben. Dieser hatte im neunzehnten Jahrhundert angesichts der überaus verwickelten dynastischen Verhältnisse in Schleswig-Holstein davon gesprochen, es gebe nur drei Personen, die die komplizierte Geschichte des Landes überhaupt verstanden hätten: Der eine sei gestorben, der zweite verrückt geworden und der dritte habe alles vergessen.

Nun ist Gott sei Dank aus Verzweiflung über den Zustand der AfD noch niemand gestorben, aber zum Verrücktwerden sind die Verhältnisse an der Parteispitze allemal. Und manch einer wünscht sich mittlerweile, er könnte einfach alles vergessen. Dabei ist es gar nicht so einfach, überhaupt noch den Überblick zu behalten – vermutlich nicht einmal für die Akteure an der Parteispitze selbst. Wer jedenfalls gedacht hatte, mit der Absage des für das kommende Wochenende in Kassel geplanten Bundesparteitages sei der Höhepunkt der Krise erreicht gewesen, könnte sich getäuscht sehen. Mittlerweile wackelt auch der Ende vergangener Woche von Bundesvorstand festgesetzte Ersatztermin am 4. und 5. Juli in Essen bedenklich.

Mit dem Wechsel von Ort und Zeit ging auch eine neue Organisationsform einher. Statt des zunächst vorgesehenen Delegiertenparteitags plant die Partei nun eine Mitgliederversammlung. Damit erhofft sich eine Mehrheit des Bundesvorstands Rechtssicherheit. Denn schließlich hatte die Parteispitze den Parteitag in Kassel abgesagt, nachdem das Schiedsgericht der Partei Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Delegiertenwahlen in den Landesverbänden Nordrhein-Westfalen, Hessen und Saarland geäußert hatte. Zu groß war die Angst, daß der Parteitag aus diesem Grund rückwirkend für ungültig erklärt werden könnte. AfD-Vize Alexander Gauland bemängelte in diesem Zusammenhang, daß das Gericht bislang noch keine Entscheidung getroffen habe. Statt dessen gebe es bislang nur „vage Andeutungen" der Richter. „Ich habe es als Jurist lieber, wenn ich eine Entscheidung bekomme, nach der ich mich richten kann", sagte Gauland der jungen Freiheit.

Lucke stellt sich gegen Rücktritt des Vorstandes

Durch die Einladung zu einem „außerordentlichen Mitgliederparteitag" hofft der Bundesvorstand diese juristische Klippe umschifft zu haben. Der Wechsel von einem Delegierten- zu einem Mitgliederparteitag ist auch aus machtpolitischen Aspekten interessant, gilt der Rückhalt für AfD-Chef Bernd Lucke doch unter den Mitgliedern insgesamt als größer als unter den für Kassel gewählten Delegierten. Nun komme es darauf an, wer seine Anhänger besser für Essen mobilisieren könne, heißt es in der Partei. Lucke oder seine Kontrahentin und Ko-Vorsitzende Frauke Petry.

Unterdessen drohen neue Hindernisse. Um den Parteitag möglichst zeitnah nachzuholen, einigte sich die AfD-Spitze in der vergangenen Woche auf den Termin Anfang Juli. Doch zu diesem Zeitpunkt haben ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen bereits die Sommerferien begonnen. Dadurch, wird in der Partei gewarnt, werde auch dieser Parteitag juristisch angreifbar. Zudem sei die Ladungsfrist zu kurz. „Ich habe daher für einen Termin Ende September plädiert", berichtet Gauland. Die Mehrheit im Bundesvorstand sei allerdings der Auffassung gewesen, die Partei „halte es nicht aus", wenn die Entscheidung über die neue Führungsspitze so lange hinausgeschoben werde. Eine ideale Lösung scheint es nicht zu geben. „Es wird mittlerweile alles angezweifelt", sagte Parteisprecher Konrad Adam der JF. „Rechtssicherheit gibt es in der AfD nicht mehr." Dies gelte nicht nur für die Bundesebene, sondern auch für die Landesverbände.

Auch eine Konferenz von Vertretern der Landesvorstände am vergangenen Sonntag in Kassel, an der auch Lucke teilnahm, brachte keine Lösung. In einer „Kasseler Erklärung" forderten die Vertreter der Landesverbände den Bundesvorstand auf, zurückzutreten. Vom Bundesschiedsgericht sollte ein Notvorstand eingesetzt werden. Dessen Aufgabe sollte es sein, „einen rechtssicheren und praktisch durchführbaren Bundesparteitag zu gewährleisten". Doch der Plan mißlang. Dem Vernehmen nach erklärten sich zwar schließlich alle Vorstandsmitglieder zum Rücktritt bereit – Lucke jedoch lehnte diesen Schritt ab.

So bleibt die im April 2013 in Berlin gewählte Parteispitze also bis zum kommenden Parteitag im Amt. Auf der Konferenz am Wochenende in Kassel sollte ursprünglich auch darüber diskutiert werden, wie der neue Vorstand personell besetzt werden könnte. Doch dazu kam es am Ende nicht mehr.

Ob der Parteitag tatsächlich Anfang Juli stattfindet, wagt in der Partei derzeit niemand vorherzusagen. „Das wissen nur die Götter oder die Parteigerichte", sagte Gauland. Immerhin: Am Dienstag verschickte die Bundesgeschäftsstelle die Einladungen. Der Parteitag gilt vielen in der AfD mittlerweile als letzte Chance, um das Zerbröseln der Partei zu verhindern. Andere befürchten, daß es spätestens in Essen zu einer Spaltung der Partei kommt. Schon kursieren in der AfD Gerüchte, bereits in Kassel seien Räume für einen Abspaltungsparteitag des „Weckrufs" reserviert gewesen.

Wer sich dieser Tage mit Parteimitgliedern unterhält und AfD-Veranstaltung besucht, kann sogar den Eindruck gewinnen, daß die Partei längst gespalten ist. In Befürworter und Gegner des „Weckrufs 2015", der von Lucke als „Rettungsschirm" für die seiner Ansicht nach akut bedrohte AfD initiiert wurde. Für diesen Verein rührt Lucke parteiintern derzeit mächtig die Werbetrommeln. Während Petry und NRW-Landeschef Marcus Pretzell bereits in den vergangenen Wochen zahlreiche gemeinsame Auftritte absolvierten, bei denen sie sich als mögliche Doppelspitze ins Gespräch brachten, hielt Lucke sich lange zurück. Diese Zurückhaltung, die er in der Öffentlichkeit auch bei inhaltlichen Differenzen in der Partei zeigte (etwa bei der Haltung zur Pegida-Protestbewegung), bedauert Lucke nach eigenem Bekunden mittlerweile.

Am Freitag vergangener Woche trat der AfD-Chef zusammen mit Hans-Olaf Henkel in Berlin auf. Dort, in einem Hotel nahe dem Bahnhof Friedrichstraße in Mitte, hatte die Partei vor gut einem Jahr ausgelassen ihren Einzug in das Europaparlament gefeiert. Jetzt sagte Lucke: „Seit der Europawahl hat sich die AfD nicht wesentlich verbessert."

Die Veranstaltung zeigte einmal mehr, wie zerrissen, ja gespalten die Partei mittlerweile schon ist. Das begann bereits bei der Einladung. Laut Lucke wurden alle Berliner AfD-Mitglieder zu der Veranstaltung eingeladen, besonders die Unterzeichner des „Weckrufes".

Kyffhäuser-Treffen der
des Höcke-Flügels

Im Berliner Landesvorstand, der dem „Weckruf" äußerst distanziert gegenübersteht (trotz teilweise persönlicher Werbeversuche Luckes ist bislang kein Mitglied dem Verein beigetreten) stieß die Veranstaltung auf wenig Gegenliebe. Auf ihrer Facebook-Seite hieß es dazu lakonisch: „Es ist ja gegebenenfalls auch eine Gelegenheit, die ein oder andere Frage zu stellen".

Lucke wies vor gut 150 Berliner AfD-Mitgliedern dann erneut den Vorwurf zurück, er bereite mit dem „Weckruf" die Gründung einer neuen Partei vor. „Ich habe drei Jahre meines Leben für diese Partei gegeben. Mein Herzblut hängt an der AfD", sagte Lucke, der sich dennoch von einem Teilnehmer den Vorwurf gefallen lassen mußte, er habe der Partei den Krieg erklärt.

Der AfD-Sprecher machte eine andere Rechnung auf. Der „Weckruf" diene dazu, unzufriedene Mitglieder in der AfD zu halten. Nach seiner Rechnung habe die Partei rund 4.000 aktive Mitglieder. Vor diesem Hintergrund seien die gut 3.000 Unterschriften unter dem „Weckruf" ein alarmierendes Signal. Gleichzeitig versuchte Lucke den in der Öffentlichkeit im Zuge der „Weckruf"-Gründung entstandenen Eindruck zu korrigieren, die AfD sei bereits von Rechtsextremisten unterwandert. „Wir haben keinen Rechtsextremisten in der Partei. Das Problem sind weniger die Inhalte, sondern der Ton des Streits", sagte Lucke. Am Ende des Abends konnte er zumindest den zweiten Teil seiner Aussage bestätigt sehen.

Die Veranstaltung gab einen guten Eindruck von der Bandbreite der AfD-Anhängerschaft. Da war das Mitglied, das in der Flüchtlingsarbeit tätig ist und sagte, er verheimliche angesichts der Diskussion über einen Rechtsruck in der Partei mittlerweile seine Mitgliedschaft in der AfD. „Wenn sich das nicht ändert, bin ich weg", kündigte er an. Ein Schritt, den ein anderer Teilnehmer nach eigenen Angaben bereits gegangen ist. „Ich war AfD-Mitglied – jetzt bin ich in der FDP", sagte der Mann, der seine ehemalige Partei aufforderte, sich „politisch zu disziplinieren". Andere griffen Lucke scharf und vor allem lautstark für dessen kritische Haltung gegenüber Rußland an. Ein Teilnehmer forderte sogar den Austritt aus der Nato – und erntete dafür von einigen seiner Parteifreunde den Rat, die AfD zu verlassen.

Einen Tag nach der „Weckruf"-Veranstaltung in Berlin trafen sich am Kyffhäuserdenkmal die Unterzeichner der maßgeblich vom Thüringer AfD-Chef Björn Höcke initiierten nationalkonservativen „Erfurter Resolution". Mit dieser Resolution hatte der seit Wochen tobende Streit in der Partei eigentlich erst richtig Fahrt aufgenommen. Wenig überraschend fand diese Feier ohne Bernd Lucke statt. Der war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Osnabrück gereist – um dort erneut für den „Weckruf" zu werben.