© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/15 / 12. Juni 2015

Blinde Kuh vor Stalin spielen
Die baltischen Staaten gerieten 1940 zunehmend unter sowjetischen Einfluß / Dort wurde so lange beschwichtigt, bis es zu spät war
Matthias Bäkermann

Die Neue Zürcher Zeitung hatte bereits Mitte Oktober 1939 den richtigen Riecher. Irgend etwas müsse noch hinter dem Ende August abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt stecken, den deren Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow abgeschlossen hatten. Über die offenkundig gemeinschaftlich von beiden Staaten organisierte Zerschlagung des „Saisonstaates" Polen hinaus registrierten die neutralen Beobachter seit Ende September eine hektische diplomatische Betriebsamkeit Moskaus gegenüber den baltischen Staaten. Innerhalb von knapp zwei Wochen im Herbst 1939 konnte Stalin dort mit den autokratisch regierenden Führern Konstantin Päts in Estland (28. September), Karlis Ulmanis in Lettland (4. Oktober) und Antanas Smetona in Litauen (10. Oktober) auf bilaterale „Freundschafts- und Beistandsverträge" anstoßen, die es Moskau außerdem gestatteten, in den baltischen Kleinstaaten militärische Stützpunkte für die Rote Armee beziehungsweise die Rote Flotte einzurichten.

Als überzeugendstes Indiz werteten die Schweizer jedoch das Verhalten der NS-Politiker im Deutschen Reich. Entgegen bisheriger volkstumspolitischer Maximen rief Hitler die Deutschbalten am 6. Oktober 1939 „zur Rückkehr ins Reich" auf und beförderte damit die Aufgabe ihrer seit der „Aufsegelung" im Mittelalter besiedelten Heimat, welche diese Minderheit als städtisches Bürgertum und in den Landständen überproportional prägte. Zudem galt das „Ostland" in den alten Provinzen Livland, Kurland und Estland gerade in den zwanziger und dreißiger Jahren als völkisches Sehnsuchtsland der politischen Rechten, nicht zuletzt bei manchen „alten Kämpfern" der NSDAP, die dort als „Baltikumer" nach 1918 in den Freikorps geprägt wurden.

Doch nun ging alles ganz schnell. Innerhalb weniger Wochen im Spätherbst 1939 verließen Zehntausende Deutschbalten vor allem Lettland und Estland, wo sie nach dem Ersten Weltkrieg aller alten Privilegien verlustig als eine kritisch beäugte und nicht selten diskriminierte Minderheit lebten. Sie fügten sich rasch der „diktierten Option", ihr Abtransport von Riga oder Reval und ihre Neuansiedlung – meist in den nach dem Polenfeldzug dem Reich angeschlossenen neuen Gauen „Danzig-Westpreußen" und „Wartheland" – schien von deutschen Stellen fast generalstabsmäßig organisiert zu sein. Das wurde selbst von Stalin zur Kenntnis genommen, den das allzu hektische „Heim-ins-Reich-Holen" sehr verärgerte. Zwar hatte der sowjetische Diktator durch seinen Berliner Botschafter Alexei Schkwarzew mehrfach „die einwandfreie Unterstützung durch die deutsche Regierung" seiner „Lösung des Problems der baltischen Staaten" angemahnt – so wie im Geheimprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Paktes zuvor geregelt. Aber die „panikartige Abwanderung" der Deutschbalten drohte nun seine Pläne zu entlarven, da diese fast als Flucht vor der drohenden Sowjetisierung gewertet werden konnte. Eben wie bei der Neuen Zürcher Zeitung der Fall.

In den baltischen Staaten dagegen verschlossen die Regierungen die Augen. Es gab indes Stimmen wie jene des estnischen Außenministers Karl Selter, der das Zustandekommen der von Moskau abgepreßten „Beistandsverträge" als „unter schwerstem Druck drohender Vergewaltigung" beklagte, aber ansonsten blieben die Reaktionen betont beschwichtigend. Stattdessen wurden affirmativ die Erfolge aus der neuen „Freundschaft" zum übermächtigen Nachbarn herausgestellt. In Litauen konnten die Sowjets dadurch punkten, daß sie von ihrem besetzten Teil Polens die Stadt Wilna und den umgebenden Landstrich abtraten. Wegen des von Litauen als heimliche Hauptstadt beanspruchten Wilna, in dem Litauer zwar gegenüber Polen und Juden nur eine kleine Minderheit darstellten, war seit 1920 das Verhältnis zu Warschau vergiftet, ja praktisch verfeindet geblieben. Nun ging dieser Traum endlich in Erfüllung.

In Estland und Lettland gab die Umsiedlung der Deutschen keinen Anlaß zur Sorge, das Gegenteil war der Fall. Endlich schien sich ein bedeutendes Problem von selbst zu lösen. Obwohl die Deutschbalten im Vergleich zu den Russen eine wesentlich kleinere Minderheit im Land waren, war deren Rolle als wortführende Schicht bis zum Ende des Zarenreiches unvergessen. Insbesondere der Abschied von den oft adligen Großgrundbesitzern aus dieser Zeit bedeutete im Selbstverständnis dieser Völker eine endgültige Emanzipation von jahrhundertealten Machtstrukturen. Der Abschiedsgruß „Auf Nimmerwiedersehen!" des 1877 geborenen lettischen Präsidenten Ulmanis an die früheren Herren wirkte vor diesem Hintergrund wie ein Befreiungsruf.

Die sowjetische Gefahr blendeten die baltischen Regierungen selbst dann noch aus, als Stalin an Finnland im Dezember 1939 militärisch exekutierte, wie er mit nicht folgsamen kleinen Nachbarn umzugehen pflegte. Brav hielt man sich an die ausgehandelte Neutralität, obwohl die Sowjetunion ihrerseits die Verträge brach, indem sie von ihren neuen Stützpunkten im Baltikum gegen die Finnen kriegerisch aktiv wurde. Die wachsende Unruhe in der Bevölkerung gegenüber der Sowjetunion wurde besänftigt: „Unser langjähriger treuer Partner und guter Nachbar habe ein ausdrückliches Interesse an unserer Unabhängigkeit", ließ der lettische Außenminister Vilhelms Munters noch Ende 1939 verlauten, „wo ist die oft beschworene ‘Sowjetisierung’?", fragte er rhetorisch.

Sofort installierte Stalin sein Terrorsystem im Baltikum

Spätestens am 14. Juni 1940 wurde diese Frage auf dramatische Weise beantwortet. Nachdem die Rote Armee an den Grenzen der baltischen Staaten eine halbe Million Soldaten, 3.000 Panzer und 8.000 Geschütze aufgefahren hatte, machte Stalin Ernst. In Ultimaten forderte er die Regierungen auf, die sowjetischen Stützpunkte zu verstärken, was faktisch einer Besetzung der Länder gleichkam. Unmittelbar danach inszenierten die bis dahin in den Autokratien eher unbedeutenden kommunistischen Parteien Kundgebungen und riefen „Volksregierungen" aus, was bis 1989 im Ostblock als „Aufstand der Volksmassen" zurechtgeklittert wurde.

Stalins darauf jeweils nach Estland, Lettland und Litauen entsandte Statthalter organisierten für den Sommer 1940 zwar noch Wahlen, die waren aber nur noch kommunistischer Mummenschanz. Die mit bis zu 99 Prozent „gewählten" prosowjetischen Regierungen beeilten sich sogleich, Industrie, Handel und Landwirtschaft zu verstaatlichen und den Beitritt ihrer „Sowjetrepubliken" in die UdSSR zu beantragen, was Stalin im August 1940 großzügig gestattete. Sofort setzte die Verfolgung früherer Eliten und der Intellektuellen ein. Bis zum Juni 1941 inhaftierte Stalins NKWD über 60.000 Menschen, viele wurden sofort ermordet. Die meisten aber endeten elendig in den Gulags Sibiriens – ebenso wie Karlis Ulmanis und Konstantin Päts, mit denen Stalin noch im Herbst 1939 die Gläser auf „ewige Freundschaft" erhoben hatte.

Foto: Lettische Kommunisten demonstrieren für Anschluß an die Sowjetunion, Riga im Juli 1940: Der Druck drohender Vergewaltigung