© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Der „Tag der Befreiung“ auf dem Prüfstand
Gedenkpolitik: Eine Veranstaltung in Berlin kritisiert Lücken in der deutschen Erinnerungskultur
Ekkehard Schultz

Die Forderung nach der Durchsetzung der Menschenrechte wird von westlichen Politikern bei jeder passenden Gelegenheit erhoben. Gleichwohl hapert es bei der praktischen Umsetzung auch heute noch in Europa. Im Zweifel heiligt der vermeintlich gute Zweck auch die fragwürdigsten Mittel. Und dann stehen allzuoft die Menschenrechte bestimmter ethnischer und sozialer Gruppen selbst in der Gegenwart lediglich auf dem Papier. 

Ebenso hat sich auch in der kollektiven Erinnerungskultur Europas noch längst keine universelle Betrachtungsweise durchgesetzt. In Deutschland etwa hat die größte und folgenschwerste „ethnische Säuberung“ des vergangenen Jahrhunderts auf europäischem Boden – die Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – nach wie vor nur einen begrenzten Niederschlag im historischen Gedächtnis gefunden. Diese Befunde lassen sich als Fazit aus einer Veranstaltung des Zentrums gegen Vertreibung und der Konrad-Adenauer-Stiftung zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in der vergangenen Woche in Berlin ziehen.

„Stalin wollte nicht befreien“ 

Bei seinem Abriß des geschichtlichen Hintergrundes für die Massenvertreibungen und Deportationen verwies der Zeithistoriker Horst Möller zunächst auf eine aktuelle Meinungsumfrage des Forsa-Instituts. Danach seien inzwischen rund vier Fünftel der deutschen Bevölkerung der Ansicht, daß der 8. Mai 1945 ein „Tag der Befreiung“ sei. Jedoch korreliere diese Einschätzung in einem hohen Maße mit dem persönlichen Erleben der jeweiligen Befragten. Dies zeige sich an den deutlichen Unterschieden zwischen der Bewertung von jenen, die von der Vertreibung nicht unmittelbar betroffen waren, sowie deren Nachkommen; aber auch zwischen der Bevölkerung mit west- und mitteldeutscher Herkunft. Schon allein aus diesen Gründen, die mit persönlicher Schuld oder Unschuld im Hinblick auf den Nationalsozialismus und seine Folgen nicht das geringste zu tun hätten, verbiete sich eigentlich, die „westdeutsche Erfahrung zur ausschlaggebenden Norm zu erklären“, forderte Möller.

Eine monokausale Einschätzung als „Tag der Befreiung“ führe zudem dazu, daß einige Opfergruppen beim Blick auf den 8. Mai 1945 immer noch im Schatten stehen würden. Dies betreffe etwa die Opfer des alliierten Bombenkrieges, der keineswegs nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Belgien viele Tote gefordert habe. Auch die zahlreichen Zivildeportierten, die in der damaligen Sowjetunion nach Kriegsende Zwangsarbeit leisten mußten, hätten bis heute bei weitem nicht die Anerkennung, die ihren gebühre. Und nicht zuletzt sei trotz eines erfreulichen Wandels in den vergangenen Jahren das Schicksal der Opfer der Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee im gesellschaftlichen Diskurs immer noch deutlich unterrepräsentiert. 

Die bis heute noch vertretene These, daß eine Thematisierung des Leids dieser Gruppen und der an ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen bedeute, den Nationalsozialismus und die Verantwortung Deutschlands für den Kriegsbeginn zu relativieren, bezeichnete Möller als „irrig“. Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen bleibe davon selbstverständlich unberührt. Gleichsam wirke „jede Einseitigkeit tendenziös“ und unehrlich. Als Beispiel für ein derartiges Vorgehen verwies Möller darauf, daß es ein Teil der deutschen Linken erst vor wenigen Wochen für notwendig gehalten habe, auf die „Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung der Völker“ hinzuweisen. Dabei sei es historisch längst vollkommen unstrittig, daß Stalin nie die Absicht gehabt habe, weder die Deutschen, Polen, Tschechen, oder Ungarn zu „befreien“, bekräftigte Möller.

Auch die ehemalige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, forderte, den 8. Mai 1945 als „Schlüsseldatum des 20. Jahrhunderts“ ohne „Ausblendungen“ zu betrachten. Zwar endete der „fürchterlichste Krieg“, so Steinbach, doch „noch nicht die Zeit der schwersten Menschenrechtsverletzungen“. Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier wies darauf hin, daß insbesondere die Gruppe der verschleppten deutschen Frauen in die Sowjetunion noch vor 20 Jahren „überhaupt kein Thema in den deutschen Medien“ gewesen sei. Erst in jüngster Zeit sei ein allmählicher Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung spürbar. Auch der tschechische Dissident Milan Horácek beklagte die große Ignoranz von Politik und Medien insbesondere gegenüber den Vertriebenen. Gleichwohl verwies er auch auf Fortschritte. 

Fabritius: Sorge vor Relativierung unnötig

So habe im Mai der tschechische Stadtrat von Brünn erstmals eine Versöhnungserklärung zum „Todesmarsch von Brünn“ und der Vertreibung der deutschen Einwohner vor 70 Jahren beschlossen. Rund 26.000 deutschsprachige Bürger Brünns waren Ende Mai 1945 auf einen mehr als 60 Kilometer langen Fußmarsch in Richtung Österreich getrieben worden, mindestens 2.000 Menschen kamen dabei ums Leben.

Am Ende der Veranstaltung bekräftigte der BdV-Präsident Bernd Fabritius, daß Deutschland mit einem künftig stärkeren Gedenken an die eigenen Zivilopfer keineswegs „die Greuel des Nationalsozialismus relativieren oder gar bagatellisieren“ würde. Eine Relativierung durch die Erwähnung des eigenen Schicksals sei „ohnehin nicht möglich“. Die Weitergabe der Erinnerung sei nicht nur der Erlebnisgeneration ein wichtiges Anliegen. Zudem könne man sich nur auf diese Weise tatsächlich universell und glaubwürdig gegen alle Arten von Menschenrechtsverletzungen positionieren.