© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Statt Fortschritt nur Tumult
TTIP: Mehrheitsfraktionen verhindern Debatte in EU-Parlament / Kommission unter Zugzwang
Dirk Fischer

Tumultartige Szenen spielten sich vergangene Woche im Europaparlament ab, als eine denkbar knappe Mehrheit von 183 zu 181 für die Verschiebung der Debatte über das Freihandelsabkommen TTIP stimmte. Die beiden größten Fraktionen der Christ- und Sozialdemokraten hatten sich darauf verständigt, nachdem am Vorabend bereits die geplante Abstimmung über TTIP von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz abgesagt worden war, weil über 100 Änderungsanträge vorlagen. Vor allem Grüne und Linke sehen in dem Vorgang einen demokratischen Skandal.

Hintergrund ist die Uneinigkeit innerhalb der christdemokratischen EVP und der Sozialdemokraten über die Ausgestaltung der Investitionsschutzklauseln des sogenannten ISDS (Investor-State Dispute Settlement). Diese Klauseln räumen Unternehmen ein Klagerecht gegen staatliche Entscheidungen ein, die dann vor privaten Schiedsgerichten verhandelt werden sollen. 

Auch in Spanien und Italien wächst der Widerstand

Bei diesem Thema hatte man sich im Handelsausschuß eigentlich auf einen schwammigen Kompromiß geeinigt, ohne die privaten Schiedsstellen komplett abzulehnen. Diese sollten transparenter werden, demokratischen Prinzipien genügen und Berufungsmöglichkeiten bieten. Zustimmung fand auch der Plan von EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, die langfristig einen ständigen Investitionsgerichtshof anstreben. Offenbar war man sich dann der Zustimmung vor allem aus den Reihen der Sozialdemokraten nicht mehr sicher, es drohte eine blamable Abstimmungsniederlage.

Die Abstimmung wäre zwar für die Kommission jetzt nicht bindend gewesen, hätte aber in den Verhandlungen mit den USA die Position des Parlaments verdeutlicht, das dem Freihandelsabkommen letztlich zustimmen muß. Nun geht die Kommission geschwächt in die weiteren Verhandlungen. Erst kürzlich pries Handelskommissarin Malmström in Prag die Vorteile von TTIP gerade für Länder wie Tschechien. Dabei betonte sie neben den erleicherten Ein- und Ausfuhren vor allem auch den außerökonomischen Nutzen: Internationale Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch der Regierungen führten zu besseren politischen Lösungen gesellschaftlicher Probleme. Die Partnerschaft mit den USA, mit denen man ja auch in einer Wertegemeinschaft verbunden sei, bedeute zudem vor allem für ein Land wie Tschechien einen Gewinn an äußerer Sicherheit. Nicht zuletzt würde eine transatlantische Freihandelszone Standards für den Welthandel setzen und diesen Wirtschaftsraum gegenüber China stärken.

Doch die Abgeordneten müssen auf die Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen, und die wird gegenüber TTIP zunehmend kritischer. Vor allem in Deutschland ist die Zustimmung seit 2014 von 55 auf 41 Prozent gesunken. Am stärksten ist der Widerstand in Österreich. Auch im kleinen Luxemburg teilt man mehrheitlich die Bedenken von Umwelt- und Verbraucherschützern. In Spanien und Italien wächst der Widerstand. Hier sind es allerdings eher linkspopulistische Gruppen, die das Thema für ihre Globalisierungskritik nutzen. In anderen Ländern ist man weniger kritisch: Laut YouGov sind in Frankreich 30 Prozent gegen TTIP, im traditionell freihändlerischen und amerikafreundlichen Großbritannien nur 19 Prozent. 58 Prozent der EU-Bürger sind angeblich für das Transatlantische Freihandelsabkommen. Trotzdem dominieren in der öffentlichen Meinung die Gegner. Die europaweite Bürgerinitiative „Stop TTIP“ hat bereits zwei Millionen Unterschriften gesammelt. Diesem Bündnis ist jetzt auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beigetreten. Dazu paßt, daß die Hälfte der Unterschriften aus Deutschland kommt, aus Spanien zum Beispiel nur 62.000. Kaum Nachhall findet die Aktion in Skandinavien. Den Widerstand bekommen auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu spüren. Ukip-Chef Nigel Farage sagt, er habe in 17 Jahren als EU-Abgeordneter noch nie so viele Anrufe, Post und E-Mails bekommen wie zu diesem Thema. 

Nigel Farage rühmt Wirkung der Vielfalt 

Auch wenn man Freihandel grundsätzlich begrüßt, so geht es doch letztlich darum, ob TTIP hauptsächlich den multinationalen Konzernen dient und die Standards für Nahrungsmittel, Umwelt und Soziales senkt, was 61 Prozent der Deutschen glauben. Führen die transatlantischen Harmonisierungen und Standardisierungen – auf welchem Niveau auch immer – tatsächlich zu mehr Wohlstand, Wachstum und Arbeitsplätzen? Farage vertritt die gegenteilige Auffassung: Gerade die Vielfalt an unterschiedlichen Regelungen führe zu mehr Wettbewerb und damit zu mehr Wirtschaftsbelebung.

Die gegenteilige Auffassung betont, daß gerade durch TTIP nichttarifäre Handelshemmnisse wie Normen, Vorschriften und Auflagen beseitigt würden. „Bisher können Teile des Mittelstands keine Geschäfte auf dem amerikanischen Markt machen, weil sie den Aufwand, der dafür vonnöten ist, nicht leisten können“, so der Automobilzulieferer Arndt G. Kirchhoff in der Wirtschaftswoche.

Ob es überhaupt dazu kommt, ist mehr denn je fraglich. Jedenfalls hat das fehlende Votum des Europäischen Parlaments die Verhandlungsposition der EU gegenüber den Vereinigten Staaten nicht gerade gestärkt. Dort wird sich der Eindruck verfestigen, daß TTIP noch nicht reif, die Europäer noch nicht an der Reihe seien. Mit dem zerstrittenen EU-Parlament, der kritischen Bevölkerung ausgerechnet im wirtschaftsstarken Deutschland, dem Bundestagswahlkampf 2017 und der britischen EU-Abstimmung im selben Jahr scheint sich das zu bestätigen. 

Deshalb drängt Washington schon seit einiger Zeit verstärkt auf den Abschluß der Trans Pacific Partnership (TPP). Auch die öffentliche Debatte dreht sich eher um dieses Abkommen. Präsident Obama ist nur noch anderthalb Jahre im Amt und wird sich daher eher der TPP zuwenden. US-Chefunterhändler Michael Froman: „TPP ist näher an einem Abschluß, deshalb liegt unser Fokus im Moment sehr stark darauf.“ Das verweist auf die geopolitische Komponente: Wenn die USA und Europa keine Standards für den Welthandel setzen, dann wird es China tun, so Obama und Kanzlerin Merkel übereinstimmend auf dem Gipfel auf Schloß Elmau. Hier war man sich noch einig, daß es bis Jahresende ernsthafte Fortschritte geben soll.

Der Meinungsbildung im bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten EU-Mitgliedsland Deutschland fällt jedenfalls eine Schlüsselrolle zu, weiß auch EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström: „Wenn das Land, das am meisten von TTIP profitiert, die Transatlantische Partnerschaft nicht will, gibt es nichts in der Welt, was ich tun könnte.“

Foto: US-Chefunterhändler Michael Froman und EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström: Auch bei Gegenwind in guter Stimmung