© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/15 / 19. Juni 2015

Zum Einfluß des Artikels 139 GG auf die Verhandlungen zum Einigungs- sowie 2+4-Vertrag
Fremdbestimmte Vereinigung?
Thomas Gertner

Im Verlauf unserer Recherchen zu den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag habe ich im Herbst letzten Jahres ein hochinteressantes Gespräch mit Günther Krause, dem Chef-Unterhändler der DDR bei den im Jahr 1990 geführten Verhandlungen, geführt. Er hat mich in dem bestätigt, was ich schon lange vermutet hatte, aber nicht beweisen konnte. Man wird mit dem Mythos der selbstbestimmten Wiedervereinigung, die allein die Angelegenheit der Deutschen gewesen sei – wobei auch gern der unvollendet gebliebene Versuch der Herstellung der Einheit Deutschlands in der Frankfurter Paulskirche bemüht wird –, wohl aufräumen müssen.

Bei allen Dokumentationen über das Zustandekommen der genannten Verträge gewinnt man stets den Eindruck, als hätten auf der einen Seite die bundesdeutsche, auf der anderen Seite die Delegationen der UdSSR und der DDR gehandelt. Hiernach hätten die Letztgenannten Vorbedingungen gestellt, auf welche sich die bundesdeutsche Delegation habe einlassen müssen, um nicht die Wiedervereinigung zu gefährden. Da nach der Präambel alter Fassung das Wiedervereinigungsgebot höchsten Rang hatte, sei die Hinnahme dieser Vorbedingungen verfassungsmäßig geboten gewesen. Die Hinnahme der sowjetischen Vorbedingung war zwar unumgänglich, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen, wobei sich die Frage nach Inhalt und rechtlichen Konsequenzen dieser Vorbedingung stellt. Wichtiger ist aber, daß auch die Westalliierten, scheinbar nur interessierte Beobachter der Verhandlungen, Bedingungen gestellt haben. Es hat dabei den Anschein, als hätten die Westalliier-ten und die Sowjetregierung die jeweils gestellten Vorbedingungen miteinander abgestimmt.

Ich habe Günther Krause danach befragt, ob ihm der – sogar in Fachkreisen weitestgehend unbekannte – Artikel 139 GG geläufig sei. Dieser besagt, daß die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen (deutschen) Rechtsvorschriften von den Bestimmungen „dieses Grundgesetzes“ nicht berührt sind. Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates ergibt sich, daß ohne diese Bestimmung die Hochkommissare der Westalliierten ihre Zustimmung zum Grundgesetz nicht erteilt hätten. Thomas Dehler, später der erste Bundesminister der Justiz in der Regierung Adenauer, hat in den Beratungen in bezug auf diese Norm erklärt, er würde diese gern streichen, aber das gehe nicht. Krause antwortete, nach meinem Eindruck belustigt, selbstverständlich sei ihm diese Norm bestens bekannt, da sie in den Verhandlungen zum Einigungs- sowie Zwei-plus-vier-Vertrag von großer Bedeutung gewesen sei. Die Westalliierten hätten darauf bestanden, daß die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unter Beibehaltung des Grundgesetzes auf der Grundlage des Art. 23 GG erfolgen müsse. Von westalliierter Seite wurde es von vornherein kategorisch abgelehnt, daß an die Stelle des Grundgesetzes eine neue Verfassung trete, die dann mit Sicherheit die Vorbehaltsklausel des Art. 139 GG nicht enthalten hätte. Ein wesentlicher Grund für die Forderung nach der Beibehaltung des Grundgesetzes war dabei dieser besagte Artikel.

Im Jahr 1990 wurde eine kurze Zeitspanne lang diskutiert, in welchen rechtlichen Formen die Einheit Deutschlands hergestellt werden sollte. Es wurde die Forderung aufgestellt, der Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten gebe Veranlassung zu einer neu auszuarbeitenden Verfassung. Art. 146, nach dem das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, war für seine Befürworter die gegenüber Art. 23 vorrangige Bestimmung zum Vollzug der Einheit. Der Parlamentarische Rat habe nur eine provisorische Verfassung für die Übergangszeit der Teilung schaffen wollen.

Dieser Weg sollte wohl zunächst auch beschritten werden. Am 11. Februar 1990 erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl nach einer Moskaureise dem ZDF, daß man eine neue Verfassung zu schaffen habe, wobei man in diese Bestandteile aus den Verfassungen beider deutschen Staaten aufnehmen wolle. Völlig überraschend hatte sich am 6. März 1990 die Bonner Regierungskoalition unter Führung der CDU darauf geeinigt, den Weg zur Einheit nach Art. 23 zu gehen. Von diesem Weg ist man nicht mehr abgewichen.

An der Beibehaltung des Art. 139 mußte schließlich auch die UdSSR ein vitales Interesse haben. Denn alles, was die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz revidiert hätte, hätte die Sowjetregierung weder der Bevölkerung noch dem Obersten Sowjet vermitteln können.

Was kann Kohl dazu bewogen haben, in einer Zeitspanne von nicht einmal vier Wochen seine Meinung so radikal zu ändern? Es liegt nicht fern, daß Kohl von den Westalliierten dazu angehalten worden ist, die Wiedervereinigung auf der Grundlage des GG vollziehen zu lassen. Eine neue Verfassung hätte es Deutschland ermöglicht, sich von den ihm in Potsdam auferlegten Fesseln zu befreien.

Bei den Beratungen zum GG war allen Beteiligten, also den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates und den Hochkommissaren der Westalliierten, klar, daß die im Jahr 1946 auf Anordnung der Besatzungsmächte von den Landtagen der westdeutschen Länder erlassenen Vorschriften unter dem Grundgesetz keinen Bestand haben konnten. Durch diese wurde nämlich rückwirkend ein bestimmtes Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft mit empfindlichen Sühnemaßnahmen sanktioniert. Kein zivilisierter Rechtsstaat darf indessen in seiner Verfassung Vorschriften für verfassungsfest erklären, die an solchen elementaren Mängeln leiden. Hätte man nun aber eine neue Verfassung ausgearbeitet, hätte diese mit Sicherheit keine solche Bestimmung enthalten, weil dies nicht vermittelbar gewesen wäre. Dann hätten viele Entnazifizierungsverfahren neu aufgerollt werden müssen. Strafgerichte hätten prüfen müssen, ob die erfaßten Personen oder Unternehmen gegen Strafnormen des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) verstoßen haben. Das Vermögen vieler Personen ist aber eingezogen worden, obwohl diesen ein nach dem RStGB strafbares Handeln nicht vorzuwerfen war. Dann hätten die Betroffenen rehabilitiert werden müssen, und das zu Unrecht eingezogene Vermögen hätte entweder zurückgegeben oder zumindest eine dem Verkehrswert angemessene Entschädigung gezahlt werden müssen.

Damit aber nicht genug: Wenn schon deutsche Entnazifizierungsvorschriften hätten für unwirksam erklärt werden können, so hätte man auch (allerdings nur politisch) in Frage stellen können, ob die Nürnberger Prozesse unter schweren Menschenrechtsverletzungen leiden, weil eigens für diesen Prozeß rückwirkend geltendes Strafrecht gesetzt worden ist. Auch der Bundesregierung konnte nicht daran gelegen sein, alle Entnazifizierungsverfahren in den alten Bundesländern, die längst abgeschlossen waren, wiederaufzunehmen und nunmehr eine strafrechtlich relevante Schuld der Betroffenen nach Maßgabe des RStGB zu überprüfen. An der Beibehaltung des Art. 139 mußte schließlich auch die UdSSR ein vitales Interesse haben. Denn alles, was die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz revidiert hätte, hätte die Sowjetregierung weder der Bevölkerung noch dem Obersten Sowjet vermitteln können. Das Gesetz, mit welchem die Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands durch die UdSSR ratifiziert werden mußte, hätte diesen nicht passiert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre die Sowjetregierung sogar gestürzt worden.

Auf Befragen, warum sich in keinem Dokument irgendein Hinweis zu Art. 139 findet, antwortete Krause, daß die meisten Akten unter Verschluß stünden. Er fügte hinzu, aufgrund der Darstellungen der Verhandlungen zum Zwei-plus-vier-Vertrag entstehe der Eindruck, als habe es sich um eine Angelegenheit zwischen den beiden deutschen Staaten und der UdSSR gehandelt. In Wahrheit aber hätten die USA, „Gewinner des Kalten Krieges“, das Wort geführt.

Das ist gut nachvollziehbar: Das globalstrategische Ziel der USA war es, die Ostgrenze der Nato um etwa 300 Kilometer zu verschieben. Die Vereinbarungen mußten daher so gestaltet werden, daß die Regierung Gorbatschow nicht desavouiert würde. Sie durfte unter keinen Umständen vor dem Obersten Sowjet scheitern, anderenfalls drohte eine historische Chance vertan zu werden. Die Sowjetregierung mußte daher die in ihrer Zone durchgeführte Boden- und Wirtschaftsreform so darstellen, als sollte hierdurch die Entnazifizierung und Entmilitarisierung des deutschen Volkes in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen durchgesetzt werden, wie auch in den Westzonen.

Im Hinblick auf Art. 139 mußte Kohl die sowjetische Vorbedingung zur Kenntnis nehmen. Die UdSSR hat sich genauso verhalten wie die Westmächte vor ihrer Zustimmung zum Grundgesetz. Ohne Art. 139 hätten diese dem Grundgesetz 1949 nicht zugestimmt. 

Mit ihrem Aide-mémoire vom 28. April 1990 reagierte die Sowjetregierung in diesem Sinne, indem sie betonte, insbesondere Boden- und Wirtschaftsreform in ihrer Zone als Maßnahmen zur Entnazifizierung Deutschlands zu respektieren. Hätte die Sowjetunion statt dessen erklärt, daß Boden- und Wirtschaftsreform dazu gedient haben, eine „gerechtere“ Eigentumsordnung herzustellen, hätte die Bundesrepublik Deutschland schon im Hinblick auf Art. 1 GG diese Maßnahmen, die dann dem kommunistischen Klassenkampf gedient hätten, nicht anerkennen dürfen. Jede Art von Klassenkampf ist nämlich mit den nicht abänderbaren Artikeln 1 und 20 unvereinbar, schon deshalb, weil er die Individualität eines Menschen leugnet und diesen allein wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse der herrschenden Klasse unterwirft und auf diese Weise rechtlos stellt.

Wenn Boden- und Wirtschaftsreform indessen unter dem Schutz des Art. 139 standen, bestand für die bundesdeutsche Delegation überhaupt keine Möglichkeit mehr, über diese Bestimmungen zu verhandeln. Das erklärt die Aussage des damaligen Parlamentarischen Staatsekretärs Kinkel vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), der ausgesagt hat, die Bundesregierung habe die gegebenen Realitäten nicht anerkannt, sondern nur zur Kenntnis genommen und erklärt, diese künftig nicht in Frage zu stellen. Wichtig, aber vom BVerfG nicht aufgegriffen, wurde seine Äußerung, der Einigungsvertrag habe keine neuen Regelungen insoweit enthalten, sondern die gegebene Rechtslage lediglich klargestellt.

Gerade diese Äußerung ist aber entscheidend. Im Hinblick auf Art. 139 mußte die Bundesregierung die sowjetische Vorbedingung, Respektierung der Boden- und Wirtschaftsreform als Entnazifizierungsmaßnahmen, zur Kenntnis nehmen. Die UdSSR hat sich genauso verhalten wie die Westmächte vor ihrer Zustimmung zum Grundgesetz. Ohne Art. 139 hätten diese dem Grundgesetz 1949 nicht zugestimmt. Um sich von dem Inhalt dieser oktroyierten Norm zu distanzieren und zum Ausdruck zu bringen, daß man den Willen der Besatzungsmächte lediglich zur Kenntnis genommen habe, hatte das damalige Mitglied des Parlamentarischen Rates, Theodor Heuss, den Vorschlag unterbreitet, man möge die Worte „zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ in Anführungszeichen setzen, was dann auch geschehen ist. In den Verhandlun-gen zum Einigungs- und Zwei-plus-vier-Vertrag hat sich die Geschichte letztlich konsequent fortgesetzt.

Das stellt die Betroffenen aber nicht rechtlos. Art. 139 schließt nämlich nicht aus, daß unter Beachtung der Unschuldsvermutung jeder Einzelfall überprüft werden muß, was in den alten Bundesländern für eine gewisse Zeitspanne auf gesetzlicher Grundlage möglich war. Dagegen hat sich die Sowjetregierung nicht verwahrt.

In den alten Bundesländern sahen zwischen 1951 und 1955 verabschiedete Gesetze der Länder vor, daß als Hauptschuldige oder Belastete eingestufte Personen oder ihre Rechtsnachfolger berechtigt waren, die häufig auf der Grundlage widerleglicher Vermutungen erfolgten Schuldfeststellungen unter Beachtung des Prinzips der Unschuldsvermutung überprüfen zu lassen. Dies führte in vielen, teils spektakulären Fällen zur Aufhebung der Schuldsprüche.

Auch die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone muß einer solchen Überprüfung durch den gesetzlichen Richter unterliegen. Nach § 1 V des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes fallen unter dieses Gesetz auch strafrechtliche Maßnahmen deutscher Verwaltungsbehörden. Da allen Betroffenen der Boden- und Wirtschaftsreform ein für strafwürdig erachtetes Verhalten während der nationalsozialistischen Herrschaft vorgeworfen worden ist, liegen die Voraussetzungen nach dem Wortsinn vor. Der Gesetzgeber behauptet aber, es liege lediglich ein Strafszenario vor; in Wahrheit hätten Boden- und Wirtschaftsreform der Herstellung einer neuen Eigentumsordnung gedient.

So wird die von der Sowjetregierung gestellte Vorbedingung aus durchsichtigen Motiven verfälscht. Die meisten Betroffenen wären zu rehabilitieren. Dies löst Restitutionsansprüche aus. Da dies nicht gewollt ist, müssen die Betroffenen mit dem Makel behaftet bleiben, während der nationalsozialistischen Herrschaft Verbrechen begangen zu haben. Nur eine förmliche Rehabilitierung würde diesen Makel beseitigen. Ein solcher Hoheitsakt hätte aber zwingend die unerwünschten vermögensrechtlichen Folgen, Restitution oder Entschädigung, nach sich gezogen. Diesen gordischen Knoten wird das BVerfG durchhauen müssen, welches mit dieser Problematik schon seit fast viereinhalb Jahren befaßt ist.




Dr. jur. Thomas Gertner, Jahrgang 1950, betreut seit 1993, auch in eigener Sache, viele Opfer der Vertreibungen in der Nachkriegszeit und Heimkinder der ehemaligen DDR, sowohl vor nationalen als auch vor internationalen Instanzen.

Foto: DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (2. v. r.) sowie dessen Staatssekretär Günther Krause (r.) bei einem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl (3. v. r.) im Berliner Reichstagsgebäude während der Verhandlungen zum Einigungsvertrag 1990: War die Einflußnahme der Alliierten auf den rechtlichen Rahmen des wiedervereinigten Deutschland in einem sensiblen Punkt weit größer als bisher angenommen?