© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Das Prinzip Anpassung
70 Jahre CDU: Keine Partei hat die Geschicke der Bundesrepublik so geprägt wie sie – bis heute
Karlheinz Weißmann

Es gibt zwei Mythen über den Ursprung der CDU. Einen schwarzen und weißen. Der eine besagt, sie habe sich als Dauerkoalition von Zentrum und Deutschnationalen etabliert; der andere, die Partei sei in Reaktion auf die Erfahrungen von evangelischen und katholischen Christen während der NS-Zeit entstanden. 

Wie die meisten Mythen, enthalten auch diese beiden einen Wahrheitskern. Ohne Zweifel hat das religiöse Bekenntnis für die Gründergeneration der CDU eine verhältnismäßig große Rolle gespielt, und es gab auch eine Anzahl von Männern, die aus dem Widerstand zur Partei gestoßen war. Nur als typisch kann man diese Gruppe nicht ansehen, ihr Einfluß blieb sehr begrenzt. Hinzu kam das unbestreitbare Übergewicht des katholischen Anteils. Erhebliche Energie mußte (und muß gelegentlich noch heute) darauf verwendet werden, den Konfessionsproporz innerhalb der Partei zu wahren oder neu auszuhandeln. 

Trotzdem hat die CDU bis in die siebziger Jahre den Eindruck nicht beseitigen können, daß sie eine „schwarze“, „klerikale“ Partei sei, eine Wahrnehmung, die sich erst verschob, als sie im Kampf gegen die sozialliberale Koalition, deren Gesellschafts- wie Deutschlandpolitik, zur Sammlungsbewegung aller wurde, die weder den großen Umbau noch die Aufgabe der Wiedervereinigung wollten. 

Das nationale Profil hatte die Union auch vorher von Fall zu Fall geschärft: um die Vertriebenen zu halten oder Patrioten – meistens protestantischer Prägung – eher schwarzweißroter oder schwarzrotgoldener Färbung. Aber für den Bezug auf die DNVP der Weimarer Republik war schon ein gewisses Maß an Boshaftigkeit nötig. Nicht nur, weil man damit die einflußreiche Arbeitnehmerschaft und die „Herz-Jesu-Marxisten“ in der Partei überging. Es wurde auch ignoriert, wie lange SPD und FDP die „Dreigeteilt niemals“-Rhetorik pflegten oder die antikommunistische beziehungsweise antitotalitäre Stoßrichtung und daß die Auffassungen der Union von Recht und Ordnung in der Nachkriegszeit nichts anderes als konsensfähig waren.

Soweit die Union die „restaurative“ Phase der Bundesrepublik prägte, geschah das in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, was nicht nur den anhaltenden Erfolg der Partei bei Wahlen erklärte, sondern auch das Zutrauen, das die Masse der westdeutschen Bevölkerung in ihr Führungspersonal – von Adenauer und Erhard bis zu Barzel und Carstens – setzte. Allerdings führte der „Machtwechsel“ von 1969 zu bleibender Verunsicherung. 

Das neue Selbstbewußtsein der sozialdemokratischen Konkurrenz, die den „Genossen Trend“ auf ihrer Seite wußte, die Begeisterung der jungen Generation fürs „Willy-Wählen“, die Politisierung der Frauen, das Umsichgreifen der kritischen Attitüde lösten in der Union massive Konflikte in bezug auf den weiteren Kurs aus: zwischen der „Stahlhelm“-Fraktion, die ihren Bezugspunkt je länger je mehr außerhalb der eigenen Reihen – in der Person von Strauß oder dem Muster CSU – fand, den Moderaten, die um jeden Preis zurück an die Macht wollten, und den „Modernisierern“, die überzeugt waren, daß man es mit neuen weichen Themen versuchen sollte.

Ohne Zweifel war die schwarz-gelbe Wende von 1982 ein Sieg der Moderaten, die durch Kohls geschickte Regie der Parteirechten suggerierten, es stehe sogar eine „geistig-moralische“ bevor und die Modernisierer durch Postenvergabe einbanden. Aber die zeitliche Ausdehnung dieser Ära wurde doch nur erreicht, weil man den vorgegebenen Kurs kaum verändert fortsetzte. Auch das hat dazu beigetragen, das Bild der CDU als der bundesrepublikanischen Partei schlechthin zu festigen. 

An allen Wegmarken der Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands konnte sie die Richtung mitbestimmen: bei der Teilstaatsgründung, bei der Westintegration, beim Projekt „Wohlstand für alle“, zuletzt noch bei der Wiedervereinigung und der Einführung des Euro. Andererseits unterschied sich ihre Entwicklung kaum von der vieler bürgerlicher Parteien. Zwar ist das anfangs so attraktive Label „christliche Demokratie“ fast überall in den Nachbarstaaten verschwunden oder auf Unverbindliches reduziert, aber im Kern entsprach die Entwicklung der Union jener der britischen Konservativen oder amerikanischen Republikaner.

Das hatte wesentlich damit zu tun, daß auch ihre Führung verstand, daß nicht nur die Zeit der Klassen- oder Religionsparteien vorbei war, sondern auch die der Weltanschauungsparteien. 

Wer in der CDU aufsteigen konnte, hatte das Prinzip Anpassung begriffen. Daher rührt nicht nur die Entschlossenheit, mit der man über das eigene Geschwätz von gestern hinweggeht, sondern auch die feine Witterung für Gefährdungspotentiale. Die Zählebigkeit des Systems Merkel erklärt sich ganz wesentlich aus diesem hochgezüchteten Opportunismus, einer Mischung aus demoskopiegestützter Feststellung dessen, was gerade als „normal“ gilt, Polit-Marketing, Bereitschaft, die Medien bei Laune zu halten und ansonsten auf Zeit zu spielen, Entscheidungen eher zu vermeiden als herbeizuführen. Das alles hat der Kanzlerin nicht nur den Status „mächtigste Frau der Welt“ eingetragen, sondern auch der CDU die Stellung als Regierungspartei gesichert, die sie damit über fast zwei Drittel der Zeit seit Gründung der Bundesrepublik innehatte. 

Die Bewunderung dafür mag widerwillig sein, aber es gehört doch im politischen Geschäft einiges dazu, sich so dauerhaft an der Spitze zu halten. Anpassung aus Prinzip kann allerdings nur dann erfolgreich sein, wenn die Umstände kalkulierbar bleiben. Kommen sie ins Tanzen, braucht man andere Fähigkeiten, solche, über die weder die CDU noch ihr Führungspersonal verfügen.