© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Ein Kontinent gerät ins Wanken
Asylansturm: Während die EU über eine Quote diskutiert, bricht an immer mehr Grenzen in Europa Chaos aus
Henning Hoffgaard

Es sind bedrückende Szenen. Immer wieder muß der Lastwagenfahrer anhalten. Die Straßen sind voll mit illegalen Einwanderern, die versuchen, in seinen LKW einzubrechen. Steine fliegen, Gegenstände werden auf die Straße geworfen, die Polizei schaut zu. Wenige Kilometer von der französischen Hafenstadt Calais ist die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Jenseits der Autobahnen haben sich ganze Zeltstädte mit Asylbewerbern gebildet. Sie wollen nach England. Um jeden Preis. Am einfachsten ist das im Laderaum eines Lastwagens. Die Fahrer haben kaum Chancen, sich dagegen zu wehren. Sie schließen sich in ihren Kabinen ein. Entsprechende Videos gibt es mittlerweile auch aus Bulgarien und Rumänien. Der Ansturm auf die Grenzen bringt immer mehr europäische Länder in Bedrängnis. So kündigte etwa Ungarn den Bau eines Grenzzauns zu Serbien an. Die Regierung in Budapest weiß sich nicht mehr anders zu helfen. Besonders an den italienischen Grenzen ist die Lage außer Kontrolle. 

Das Dublin-Abkommen ist längst gescheitert

Frankreich ließ mehrere Übergänge dichtmachen. Auf der anderen Seite warten Tausende Illegale. Italien will sie loswerden, Frankreich will sie nicht aufnehmen. In fast allen EU-Staaten steigen die Asylzahlen dramatisch an. In einigen Ländern um mehr als 100 Prozent. Die meisten Asylsuchenden wollen nach Deutschland, Großbritannien und in die skandinavischen Länder. Die zunehmende Ungleichverteilung der Asylsuchenden soll nach dem Willen der EU-Kommission über eine Quote ausgeglichen werden. Die Bundesregierung ist dafür, Italien auch. Widerstand gibt es aus den osteuropäischen EU-Mitgliedern und vor allem Großbritannien. Diese Länder müßten mit einer Quote weit mehr Asylbewerber aufnehmen als bisher. Ein Kompromiß ist also nicht in Sicht. Daß Dublin-Verfahren, wonach Asylsuchende ihren Antrag in dem EU-Staat stellen müssen, den sie zuerst erreicht haben, ist längst zusammengebrochen. Ungarn kündigte es am Dienstag ganz offiziell auf. Hilflos muß Brüssel zusehen, wie das Asylsystem in einem Staat nach dem anderen an seine Grenze stößt. Die JUNGE FREIHEIT zeigt deswegen auf, wo es derzeit besonders brennt.


Calais: Ansturm auf die Lastwagen

Tausende illegale Einwanderer warten in der französischen Hafenstadt Calais auf eine Möglichkeit, nach Großbritannien einzureisen. In großen Gruppen brechen sie in wartende LKW ein.Rund um die Autobahnen campieren die Asylsuchenden und warten auf ihre Chance. Die Polizei schätzt ihre Zahl auf etwa 4.000. Tendenz steigend. 


Paris: Tausende in Zeltstädten

Sie leben unter Brücken, in der Nähe von Einkaufszentren und auf Hinterhöfen. Mitten in Paris haben sich Zeltstädte gebildet, in denen sich Asylbewerber aufhalten. Um dem Treiben Herr zu werden, kündigte die Regierung den Bau von zahlreichen neuen Asylheimen an. Dort soll Platz für 10.000 Personen entstehen.


Niederlande: Das Boot ist voll 

Fast 70 Immigranten in einem einzigen Container. Für die englische Polizei ist das kein Einzelfall. Immer mehr Asylsuchende versuchen, die Insel auf niederländischen Fähren zu erreichen. Den Haag verstärkt nun die Schiffskontrollen.  


Frankreich macht die Grenze dicht

An der französisch-italienischen Grenze herrscht Chaos. Tausende Afrikaner versuchen, über den Grenz-ort Ventimiglia nach Frankreich einzureisen. Die Regierung in Paris ließ den Grenzübergang abriegeln. Die Asylbewerber traten daraufhin in Hungerstreik und blockierten die Straße.


Schweiz: 120 Illegale am Tag

„Wenn der Andrang der Asylsuchenden aus Italien anhält, müssen wir die Grenze vorübergehend schließen“, sagt der Regierungspräsident des Kantons Tessin, Norman Gobbi. Jeden Tag greife die Grenzpolizei 120 Illegale Einwanderer auf. „Der Kanton ist mittlerweile das einzige Tor, das von Italien aus noch offen ist.“ 


Spanische Exklaven im Visier

Selbst zwei sechs Meter hohe Zäune schrecken nicht ab. Sechs Afrikanern gelang in der vergangenen Woche der Übertritt über die schwer befestigte spanisch-marokkanische Grenze. Marokko stellt die illegale Ausreise mittlerweile unter Strafe.  Dennoch schafften es im vergangenen Jahr fast 9.000 Personen nach Ceuta und Melilla.


Mailand: Sie wollen nach Norden

Hunderte Asylbewerber stürmten in der vergangenen Woche Bahnhöfe in Mailand und Rom. „Wir wollen nach Norden“, sagen viele von ihnen. Das Rote Kreuz rückte mit einem Großaufgebot an, um die Menschen zu versorgen. Die Polizei hielt sich zurück.


Malta und Lampedusa: Einfallstor

808 illegale Einwanderer aus 36 Ländern leben derzeit auf Malta. Zusammen mit dem italienischen Lampedusa zählt die Insel zu den bevorzugten Zielen von Schlepperbanden. Allein 2014 kamen über diese Route mehr als 170.000 Personen. Der Großteil wird nach Italien gebracht.


Italien: Visa für Asylbewerber

Schon jetzt läßt Italien Tausende Illegale unkontrolliert in Richtung Deutschland und Frankreich reisen. Für den Fall, daß die EU Italien nicht stärker hilft, drohte Ministerpräsident Matteo Renzi damit, den Einwanderern Schengen-Visa auszustellen.


Athen: „Es ist außer Kontrolle“

Hilferuf aus der griechischen Hauptstadt. „Die Situation ist bereits kritisch und könnte sehr ernst werden“, sagte Athens Bürgermeister Giorgos Kaminis in der vergangenen Woche. Zuvor waren 2.000 Asylbewerber von den griechischen Inseln in die Hauptstadt gekommen.


Bulgarien: Frontex an der Grenze

224 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Etwa 30 Kilometer sind mit einem hohen Metallzaun abgesichert. Auch Frontex-Einheiten sind vor Ort. Dennoch gelangten allein 2014 mehr als 12.000 Illegale über den Landweg nach Bulgarien. Videos zeigen, wie sie dort wartende LKW aufbrechen, die nach Mitteleuropa unterwegs sind. Nun prüft die Regierung den Ausbau der Grenzbefestigung.


Ungarn: Grenzzaun gegen Illegale

Allein in diesem Jahr registrierten die ungarischen Behörden etwa 60.000 illegale Einreisen. Um den Zustrom zu bremsen, soll an der Grenze  zu Serbien nun ein vier Meter hoher Zaun errichtet werden. Auch eine vollständige Schließung aller Grenzen kommt laut Ministerpräsident Viktor Orbán in Betracht. 


Österreich: Faktischer Asylstopp

„Österreich ist der Asylexpreß Europas, daher sind wir zum Zielland Nummer eins geworden“, beschwerte sich Inneministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). 70.000 Asylbewerber werden in diesem Jahr erwartet. Nun werden vor allem Abschiebungen bearbeitet.


Schweden: 11.000 im Untergrund

„Machtlos.“ Mit diesem Wort beschreibt die schwedische Einwanderungsbehörde ihre Möglichkeiten,  abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Knapp 11.000 sind bereits abgetaucht. „Wir haben kein System, um zu kontrollieren, was sie tun“, sagt ein Behördensprecher.


Norwegen: Die Stimmung kippt

Norwegen galt bislang als Musterbeispiel für die geräuschlose Aufnahme von Asylbewerbern. Damit ist nun Schluß. Die an der Regierung beteiligte rechte Fortschrittspartei  forderte eine Volksabstimmung über die weitere Aufnahme von Syrern.  Der Fraktionsvorsitzende der Partei, Per Sandberg, drohte bereits mit einem Bruch der Koalition.