© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Sykes-Picot am Ende
Nahost: Kurden und IS zeichnen die Landkarte neu / Retten, was zu retten ist – Machthaber im Irak und in Syrien stehen auf verlorenem Posten
Marc Zoellner

In Erbil ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt: Umgerechnet mehrere Milliarden Euro, wetterte Nechirvan Barzani, der Ministerpräsident der Autonomen Region Kurdistan, im Hinblick auf seinen Amtskollegen in Bagdad, würde die irakische Regierung der Kurdenprovinz mittlerweile schulden. Allein für den April stünden noch Zahlungen von 500 Millionen Euro aus. Daß Bagdad sich weigere, den Verpflichtungen des erst diesen Januar in Kraft getretenen Erbil-Bagdad-Abkommens zu folgen, welches die Aufteilung der Devisen aus den Ölexporten des Landes regelt, gleicht für Barzani einem Affront. Für Kurdistan wiederum, droht Barzani, könnte die Bagdader Kapitalknappheit schlußendlich der Initialfunke zur Abspaltung vom Rest des Landes werden.

In der Tat sprechen viele Vorzeichen für eine erfolgreiche Unabhängigkeit eines kurdischen Staates im Norden Iraks. Das Gebiet besitzt ein stabiles parlamentarisches System, welches von seinen Bürgern bereitwillig getragen wird. Mit den Peschmerga besitzt Kurdistan sogar sein eigenes, allein den beiden großen Parteien, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK), Rechenschaft pflichtiges Militärwesen.

  Auch wirtschaftlich ruht die kurdische Autonomieregion auf zumindest einem kräftigen Fuß. Der Ölexport boomt wie nie zuvor. Die Gründe dafür sind vor allem im Aufstieg des Islamischen Staats zu suchen: Die Selbstauflösung Syriens sowie der Siegeszug der Extremisten im Zentralirak legten weite Teile der rohstofffördernden Infrastruktur lahm. 

Kurdistan profitierte beispiellos vom Zerfall der einstigen Nahoststaaten. Noch im Oktober vergangenen Jahres lag die Rohölproduktion der Autonomiegebiete bei 320.000 Barrel pro Tag. Diesen April waren es bereits 550.000 Barrel, und bis Jahresende verspricht die kurdische Regierung sogar die Überschreitung der Millionengrenze.

Damit wäre die kurdische Autonomieregion nicht nur auf einen Schlag der wichtigste Rohölproduzent des Irak, dessen Gesamtförderung seit dem Vormarsch des IS auf knapp über drei Millionen Barrel gesunken ist. Mit den steigenden Einnahmen aus den Exportgeschäften stiege auch ihr politischer Einfluß innerhalb des fragilen Machtgleichgewichts der Zweistromlandrepublik. 

Doch Realität ist auch, daß ein starkes Kurdistan auf internationale Rückendeckung angewiesen ist. Auf sich allein gestellt hätten die Peschmerga den Radikalislamisten nicht in jüngster Zeit mehr und mehr Paroli bieten können. Die Zentralregierung in Bagdad wurde auch deswegen noch gebraucht, da allein über diese die lebensnotwendigen Waffenexporte aus den Vereinigten Staaten und Europa abgewickelt werden können.

Assad bleibt nur das alawitische Kerngebiet  

Dennoch sieht sich der Nahe Osten  vor einer historischen Korrektur, namhaft jener des Sykes-Picot-Abkommens von 1916. In dieser Vereinbarung bestätigten sich Frankreich und Großbritannien gegenseitig die Aufteilung des Orients vom Sinai bis zur persischen Grenze nach einem Sieg über das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg mit dem Zusatz, jede der beiden Großmächte dürfe anschließend willkürlich Grenzen zwischen den Provinzen ihres jeweiligen Einflußgebiets definieren. Diese Grenzziehung, auf welcher auch die politische Landkarte des postkolonialen Orients beruhte, existiert spätestens nach den Erfolgen des Islamischen Staats nicht mehr.

„Wir haben nun die Grenzen überschritten, welche die heimtückischen Hände im Land des Islam gezeichnet hatten“, verkündete IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi bereits im Sommer vergangenen Jahres nach dem Eingriff seiner Miliz in den syrischen Bürgerkrieg. „Dieser gesegnete Vorstoß wird nicht beendet, bis wir den letzten Nagel in den Sarg der Sykes-Picot-Verschwörung gehämmert haben.“

Mit der Ausrufung des Kalifats durch al-Baghdadi wurden bereits die Grenzen des Irak zu Syrien verwischt. Einzig im Norden halten die Kurden noch einen Abschnitt dieser Linie in ihrer Gewalt. Mit der Zerschlagung des IS würden diese auch zwischen Bagdad und Damaskus die einzige Region mit funktionierender staatlicher Gewalt darstellen. Ihre Unabhängigkeit wäre dann nur noch eine Frage der Zeit. Auch weitere Gruppen könnten und würden dem Beispiel der Kurden folgen: allen voran die Minderheit der Assyrer im nordirakischen Ninive, welche einen Genozid durch sunnitische Extremisten fürchten, sowie die Alawiten im Westen Syriens. 

Verhindern könnte den Zusammenbruch der betroffenen Nahoststaaten zumindest keiner der eigentlichen Machthaber mehr: Für Syriens Präsidenten Baschar al-Assad, dessen Regime selbst auf dem Zuspruch der alawitischen Minderheit beruht, ist der Plan der Abspaltung seines noch gehaltenen Herrschaftsgebiets bereits die einzig noch tragbare Option. Die Hälfte des Landes ist unter Kontrolle des IS. Die Kurden im Nordosten agieren de facto unabhängig; und im Nordwesten reiben sich seine noch loyalen Truppen an den Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA) auf. Ein souveräner alawitischer Staat mit Damaskus als Hauptstadt wäre für Assad die einzig verbliebene Möglichkeit, dem Fiasko seines Sturzes noch unbeschadet zu entkommen.

Aufgrund der wirtschaftlichen Autonomie der Kurdengebiete besäße auch Bagdad kein Druckmittel mehr gegen Erbil, um die Nordprovinzen in der Republik zu halten. Überdies gälte es für die irakische Regierung nach dem Fall des IS zuvorderst, die sunnitischen Provinzen des Kernlands politisch, militärisch und ökonomisch zu stabilisieren. Viele der einflußreichen Sunnitenstämme, die sich derzeit aufgrund ihrer Rivalität zur schiitischen Regierung dem Kalifat angeschlossen haben, werden auch  nach der Einnahme der großen, vom IS gehaltenen Städte Mesopotamiens ihre Waffen nicht bereitwillig abgeben. Doch gerade diese Regionen haben noch vor der Kurdenprovinz Priorität für Bagdad. Immerhin stellen sie nicht nur das historische Irak dar, sondern auch dessen reich gefüllte Kornkammer.