© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Pankraz,
Frau Gullweig und der Schuldenschnitt

Was die ganze Sache kompliziert, ist falsche Moral. Nur in der deutschen Sprache haben die Wörter ‘Schulden’ und ‘Schuld’ dieselbe sprachliche Wurzel. Es wäre einfacher, die Dinge beim Namen zu nennen, anstatt sie mit Werturteilen zu befrachten.“ 

So Wolfgang Münchau von der Londoner Financial Times in einer seiner Kolumnen über die griechische Schuldenkrise. Nähme man den Text ernst, so müßte man folgern, daß es niemand anders als die deutsche Grammatik ist, die die Sache verwirrt und die Finanzwelt in Panik treibt. Dabei wäre doch alles so einfach! Münchau: Entweder die Deutschen verlieren (wie die anderen Geldgeber auch) per Grexit und griechischer Staatspleite sofort alle ihre Anleihen, oder sie retten per Schuldenschnitt fürs erste wenigstens einige Restmilliarden. Wer fragt denn da nach Moral oder gar nach Grammatik? 

Um nun aber zunächst von der Moral zu sprechen: Natürlich haben moralische Schuld und finanzielle Schuldenmacherei miteinander zu tun. Wer Schulden macht und sie nach vereinbarter Frist und/oder nach x-fachen Aufschüben partout nicht zurückzahlt, begeht Diebstahl, er ist ein Verbrecher, macht sich vor Gott und der Welt schuldig und muß Strafe gewärtigen. Alle Zeiten und Sozialsysteme haben das gewußt und entsprechend reagiert. Es gab Spezialgefängnisse für notorische Schuldner, die „Schuldtürme“, in denen die Delinquenten oft jahrzehntelang schmachten und Sklavenarbeit verrichten mußten.


Heute hat sich das Maß der Strafandrohung zwar gemildert, besteht aber – zumindest für den einzelnen Schuldenmacher – noch immer. Entsprechend groß ist die Angst des kleinen Mannes, wegen Schulden hinter Gitter zu kommen. Nach wie vor droht ihm Festnahme, wenn er nicht rechtzeitig zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, seine momentane Zahlungsunfähigkeit betreffend, vor dem Gericht erscheint oder wenn er eine Geldstrafe oder ein Bußgeld nicht bezahlt. Dann gibt es „Ersatzknast“, wobei genau festgelegt wird, wieviel Geld ein Hafttag wert ist. 

In vielen Fällen besteht freilich die Möglichkeit, mit dem Staatsanwalt „Zahlungserleichterungen“ etwa in Form einer Ratenzahlung zu vereinbaren (Paragraph 42 StGB). Wenn der Schuldner allerdings bereits festgenommen wurde, ist die Verhandlungsbereitschaft der Staatsanwaltschaft in der Regel äußerst gering. Hat der Häftling dann keine liebenden Verwandten oder gute Freunde, die den Rest der Geldstrafe schnellstmöglich bezahlen, verbleibt er unweigerlich im „Schuldturm“, wie in alten gnadenlosen Tagen. Pankraz kann nur jedem raten, bei unbezahlten Schulden sich so schnell wie möglich beim Staatsanwalt zu melden. 

Die Differenz zwischen dem, was der Staat dem einzelnen Bürger in puncto Entmoralisierung  des Schuldenmachens gewährt, und dem, was er, der Staat, an Entmoralisierung des Schuldenmachens für sich selbst in Anspruch nimmt, ist jedenfalls riesig, und der Abstand wird mit jedem Tag größer. Man übertreibt keineswegs mit der Feststellung: Die Entmoralisierung der staatlichen und zwischenstaatlichen Schuldenmacherei ist der Skandal der Moderne. Und er wird, wenn es so weitergeht, schließlich zum Untergang der Zivilisation führen.

Es grenzt an Irrsinn, wenn Ökonomen vom Schlage Münchaus die Affäre als lediglich eingebildet hinstellen, die Kritiker der überdimensionalen staatlichen Schuldenmacherei als „falsche“ Moralisten veräppeln, die sich in der Grammatik einer einzelnen Sprache, des Deutschen, verheddert hätten. „Nur im Deutschen“, behauptet Münchau, hätten die Wörter  „Schuld“ und „Schulden“ die gleichen Wurzeln. Das stimmt allenfalls in einem flach-zufälligen Sinne, der nicht das geringste über Mentalität und Logik der Sprechenden aussagt.


Gut, die Engländer sagen „guilt“ für moralische Schuld, „debt“ für finanzielle Schuld. Aber auch sie wissen sehr wohl über den Zusammenhang von Moral und Schuldenmacherei bescheid. Auch sie haben die „Edda“ gelesen, das Ur-Epos der Germanen, in dem es um nichts anderes geht als um eben diesen Zusammenhang. Die Helden und ihre Götter dort sitzen zwar, vor äußeren Feinden halbwegs sicher, in Walhalla und trinken fröhlich Met, doch alle diese Helden und sogar die Götter sind tief verschuldet bei der Herrin des Goldes, der Zauberin Gullweig, und sie wissen um ihre Schuld und haben ein sehr schlechtes Gewissen.

Sie wollen Schuldenschnitt, schmieden finstere Kampfpläne gegen Gullweigs eigene Heerscharen, die Riesen von Nibelheim. Das Gold, das Geld ist der große Unheilstifter in der germanischen Welt. Seinetwegen werden falsche Eide geschworen, seinetwegen geht man fatale, in Banden schlagende Verpflichtungen ein, verschuldet sich immer weiter. Und seinetwegen, wegen des Streits um den Nibelungenhort, den Schatz, den einst die Zwerge aufgehäuft haben und den sowohl die Riesen wie die Götter haben wollen, kommt es zum Endkampf, zu einem aberwitzigen Gemetzel, bei dem alle untergehen. 

Zusammen mit den Göttern sterben die Menschen, und begleitet wird die Apokalypse von Erdbeben, Klimasturz, Vulkan-ausbrüchen, gewaltigen Tsunamis. Die Welt im ganzen wird vernichtet. Die Brücke, die die Götter einst über dem Chaos errichtet hatten, stürzt ein. Was einzig bleibt, ist das Seufzen der Mütter tief im Inneren des Chaos, ein ewiges Wimmern, von dem niemand zu sagen weiß, ob es je wieder zu erträglichen Gestalten und Formen führen wird und welche das sein werden.

Was die Schöpfer der „Edda“ offensichtlich nicht vorausgesehen haben, ist der Umstand, daß es einst auch mit den „Müttern“, also mit den Frauen der Walhalla-Helden , nicht mehr weit her sein wird. Statt produktiv zu seufzen, wollen sie heute selber Helden spielen. So bleibt nur die Hoffnung, daß sich das immerhin rührige Gewissen der Mettrinker, von dem die „Edda“ Zeugnis gibt, gerade noch zur rechten Zeit zurückmelden wird. Mit dem Schuldenbezahlen anzufangen, ist es nie zu spät. Das gilt auch für Staaten.