© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Alles strömt unterschiedslos
Aus dem Verborgenen zur Offenbarung: Inmitten ehrlicher Ignoranz würde die Kunst besser gedeihen
Sebastian Hennig

Das Interesse an Kunst war noch nie so groß. Die Besucherzahlen der Museen steigen zugleich mit deren Eintrittspreisen. Auch diesen Sommer finden landesweit wieder die „Tage des offenen Ateliers“, „Lange Nächte der Museen“ und „Künstlermärkte“ statt.

Bei dieser Fülle wollen es die Organisatoren natürlich nicht dem Zufall überlassen, ob die Besucher kommen. Also werden diese kurzerhand dort abgeholt, wo sie stehen, wie es wörtlich heißt. Das Festliche, das Besondere eines Kunstereignisses bleibt bei dem Bemühen um „niederschwellige“ Zugänge auf der Strecke. Wer sagt, „das ist mir zu hoch“, der sollte besser ermuntert werden, sich zu strecken, anstatt dahin geführt zu werden, wo er auf eine unterdrückte Hoheit herabblicken kann. Die von Konrad Lorenz beschriebene mangelnde Toleranz für Unlustgefühle höhlt den Kulturbetrieb von innen her aus. Sie betrügt das Publikum um die Erfahrung der Schönheit, die sich oft hinter geringen Zumutungen verbirgt. 

Ein treudeutsch aufgeschlossenes Volk ist zur umworbenen Kundschaft herabgesunken. Wo einst sachliche Mitteilungen einluden, rollen heute Marketingkampagnen ab. Wie für Rockkonzerte werden Ausstellungen mit riesigen Plakatflächen beworben. Auf der Autobahn bei Gera ist seit einigen Jahren sogar an einem großen Tankbehälter die Werbung für Otto Dix oder Neo Rauch nicht mehr zu übersehen. Wie bei der Propaganda der Automobilindustrie werden die Konsumenten an den Eiern gepackt. Auf Fotos rücken attraktive Frauen ins Bild, die sich aufmerksam über eine Vitrine beugen, während die duftende Haarlocke eine runde Schulter herabwallt. Rehaugen blicken verständnisinnig an einer Skulptur hinauf. Zu deren Kurvatur steht die eigene Körperlinie in reizvollem Kontrast. 

Statt der scheuen Achtsamkeit einer überschaubaren Zahl von Eroberern, die neben der völligen Minorität der Kenner und Macher auf eigene Faust das Neuland der Kunst begehen, wimmelt es heute von Scheinsachverständigen. Deren Gedanken gleiten entlang der Leitplanken, welche die Konventionen der Kunstvermittler vorgeben. Fragt man den einzelnen nach seinem Erleben, werden statt einem Erlebnisbericht in eigenen Worten oft die vorbereiteten Wendungen aus Begleittext, Katalog und Audio-Führer nachgeplappert. Und bald sind auch diese über dem nächstfolgenden Ereignis wieder vergessen.

Das Leben ist nicht nur materiell bestimmt

Aber Kunst konsumiert sich nicht. Sie ist erfreuliche Arbeit, auch für den Rezipienten. In diesem Sinne muß tatsächlich jeder Mensch ein Künstler sein. Doch er will es lieber nicht sein, weil er die Mühe des Nachempfindens scheut, sobald ihm ein wohlfeilerer Zeitvertreib geboten wird. Die antike Götterwelt lernt sich am besten kennen nicht durch einen Index oder eine Erklärungsstunde, sondern indem man unvorbereitet eine gute Vorstellung von Aischylos’ Orestie oder des „Aias“ von Sophokles besucht. Der in die Wahrheit des Spiels Hineingeworfene muß nur aufmerksam den Gang verfolgen, um zu verstehen.

Dabei müssen wir gottlob soviel gar nicht wissen, um ein Bild zu verstehen. Die Tiefe eines Bildes ist bereits an dessen Oberfläche zu erfahren. Zwei in sich abgeschlossene Einheiten stoßen dort aufeinander: Auf der einen Seite steht der Betrachter mit seinen individuellen Erfahrungen. Ihm gegenüber befindet sich das Kunstwerk mit seiner spezifischen Wirklichkeit. Jede Vermittlung von außen dämpft die Kraft dieser Begegnung. Was haben Einsichten in die Entstehung, das Wissen um Hintergründe, zur Begegnung mit der Kunst beizutragen? „Niemand bekommt so viel Unsinn zu hören wie die Bilder in einem Museum“, stellten bereits die Brüder Goncourt fest.

Das Bedürfnis nach Kunst erwächst aus der Ahnung, daß das Leben nicht nur materiell bestimmt ist, daß ihm eine Bedeutung zukommt, die zuweilen metaphorisch im Kunstwerk aufleuchtet. Statt ein Pavillon zwischen Marktbuden zu sein, wird der Kunstbereich selbst bewirtschaftet. Das natürliche Verlangen wird übertönt vom stürmischen Interesse, welches die Maschinisten der Kreativwirtschaft am Fortgang ihres Betriebes haben. Denn die aktiv am Spektakel Beteiligten leben von der Kunst, nicht für die Kunst. Sie sind Statthalter einer abwesenden Majestät. Käme der zerlumpte König plötzlich wieder durchs Burgtor geritten, keiner von ihnen würde dem Lästigen den Steigbügel halten.

Etwas Unerhörtes, Ungesehenes, Unerwartetes, wie es alle gerade werdende Kunstäußerung ist, streute nur Sand in das Getriebe des allgemeinen Kulturkonsums. Der ist auf reibungslosen Durchlauf von vorkonfektionierten Gebinden ausgerichtet. Danach richten sich die Stipendienvergabe, die Fördermittelausschüttung, Stellenausschreibung und die Erwerbungen. Wer heute mit einem Werk Aufmerksamkeit erlangen möchte, der hat nicht mehr nur die gewöhnliche Trägheit der Konventionen zu durchbrechen, jene harte Kruste, durch die der Erfinder eigener Formen seit je hindurch muß. Anstatt darauf ins Freie vorzustoßen, taucht er heute in einen unüberschaubar schwammigen Toleranzbereich ein. Darin geht er verloren wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. 

Die Kunst vermag den Menschen nicht nur zu veredeln, sie entzieht ihn vorübergehend dem Verbraucherkreislauf. Unsere Wirtschaft benötigt kurzfristig die hunderttausende kleinen „Investitionsmotoren“ des individuellen Hedonismus. Wer nun statt an der komplexen Perfektion seines funkelnagelneuen Handtelefons oder eines neuen Autos seine Befriedigung findet, an dem laut Gottfried Böhm „stupenden Phänomen, daß ein Stück mit Farbe beschmierter Fläche Zugang zu unerhörten sinnlichen und geistigen Einsichten eröffnen kann“, der kann schon fast als ein Sozialschädling gelten. 

Was einst errungen werden mußte, das fällt heute zu. Beim flüssigen Navigieren durch den Kulturozean findet keine Verdichtung und Anreicherung mehr statt. Denn es wird nichts mehr errungen. Alles strömt unterschiedslos durch den breiten Schlund. Es fängt sich alles Anschwebende wie in den Barteln des Walfisches der Krill.

Es wird nicht bedacht, daß die Häufung der Begegnung mit der Kunst, ihre Allfälligkeit, zwangsläufig die Eindringlichkeit dieser Begegnung vermindert. In diesem Fall gilt: Weniger wiegt schwerer. Die Vergötzung der Kreativität verhindert am sichersten deren Ausbruch. Während gerade die Reibung an der Konvention seit je die Formentstehung befeuert hat. Die grenzen- und hemmungslose Wertschätzung relativiert jeden Wert. Wertvolles geht unter. Unterschiedslose Offenheit für alles ist eine besonders aggressive Form der Unaufmerksamkeit auf das Besondere. „Getretner Quark wird breit, nicht stark“, schrieb Goethe.

Der Ursprung muß Geheimnis bleiben

Es bleibt nur zu befürchten, – oder vielleicht auch zu hoffen –, daß es sich um einen inszenierten Kursanstieg handelt. Wie immer in einer solchen Lage folgt darauf ein rasanter Verfall der Wertschätzung. Die Ignoranz hat den Vorzug der Ehrlichkeit. Benähme sich das Publikum gleichgültiger gegenüber dem Künstler und seinem Schaffen, es bekäme den Kunstwerken besser. Künstler würden ihre Erfindungen wieder durchfechten müssen, und nicht länger in der klebrigen Wattepackung allgemeiner Indifferenz hängenbleiben. Zugleich könnten sie wieder echte Verbündete gewinnen. Wenn sich statt des dauernden Ausflusses zuweilen ein notwendiger Durchbruch ereignet, würden die Betrachter diese Intensität spüren, und ihre Zerstreuung würde sich zur Teilnahme verschärfen.

Das Kunstwerk kommt aus dem Verborgenen. Wie sein Wesen Offenbarung ist, so muß sein Ursprung Geheimnis bleiben. Bei der Zubereitung eines Teiges gibt es Phasen, in denen er keinen Luftzug verträgt. So sollte auch das Kunstwerk in Ruhe reifen können. Denn Beachtliches wächst zumeist völlig unbeachtet.

Foto: Besucherinnen der Ausstellung „Frauen“ in der Münchner Pinakothek der Moderne (2012): Die Kunst vermag den Menschen nicht nur zu veredeln, sie entzieht ihn vorübergehend dem Verbraucherkreislauf