© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

Dorn im Auge
Christian Dorn

Gespenstisch: Sonntags, auf dem Weg ins Café, spricht mich ein mir unbekannter kleiner Junge an, ob ich „Christian“ sei. Mit dem sei er nämlich verabredet. Natürlich bin ich es nicht. Oder bin ich es doch? Während ich dem Jungen sage, derjenige sicher nicht zu sein, den er sucht, erinnere ich mich an die so märchenhafte wie lebensgefährliche Flucht eines Ehepaares aus Ost-Berlin hier um die Ecke, von der ich 2014 im Deutschlandfunk hörte. Das Paar war instruiert worden, ein halbes Jahr lang jedes Wochenende zu Hause zu bleiben und dort auf ein kleines Mädchen aus Westdeutschland zu warten, das bei ihnen klingeln und sie fragen würde: „Sie wollen eine kleine Reise machen?“ Nach verabredeter Antwort habe das Mädchen die Treffzeit an einem bestimmten S-Bahnhof mitgeteilt und sei wieder verschwunden. Habe ich jetzt den heimlichen Ausgang in die bessere Welt verpaßt?

Schließlich geht in Europa längst wieder ein Gespenst um, das Gespenst des Kommunismus. Und es beginnt vor der Haustür. Als mir Gesine Lötzsch, die als Parteivorsitzende der Linken „Wege zum Kommunismus“ beschwor, auf dem Gehweg mit ihrem Mann entgegenkommt, überlege ich kurz, sie zu provozieren: „Entschuldigen Sie, Frau Lötzsch, können Sie mir kurz sagen, wo es hier zum Kommunismus geht?“ Es hätte nichts geändert. Den Weg zum Sozialismus halten weder Ochs noch Esel auf – Honeckers Genuschel erweist sich als eigentliche Prophetie. Das ist nun wirklich gespenstisch. Der Deutschlandfunk leistet hier propagandistische Hilfe: Das Nachtmagazin „Fazit“ interviewt den Sozialphilosophen und Habermas-Schüler Axel Honneth, der derzeit an mehreren deutschen Universitäten Vorlesungen zur Revitalisierung der sozialistischen Idee hält. Europa stecke in der Krise, da könne die sang- und klanglos abgetretene Idee des Sozialismus doch eine Alternative sein, so die rhetorische Begründung der Moderatorin Britta Bürger.

Gefährlich wird es derweil im Transitraum des Sozialstaats Deutschland. Eine Freundin berichtet, wie sie im Job-Center von einer vermutlichen Zigeunerin attackiert wurde, weil sie deren Sohn, der wiederholt den Lichtschalter im Wartezimmer ausknipste, ermahnt hatte. Die Mutter des Jungen beschimpfte daraufhin die Freundin, und auch den Schwarzen neben ihr, der die sich ereifernde Mutter ebenfalls kritisiert hatte, als „kack Deutsche“. Hätten diese rhetorisch mit gleicher Münze heimgezahlt, hätten sie wohl eine Strafanzeige zu gewärtigen, vermutlich noch eher als den Bewilligungsbescheid.