© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

„Überwindung der Mutterrolle“ – und die Rollenerwartungen des Kleinkindes
Frühe Wunde, später Schmerz
Hanne K. Götze

Rollenerwartungen und -muster, vor allem die überkommenen, müsse man überwinden. Das sind Schlagworte, die schon lange in der öffentlichen Diskussion zu finden sind. Überwinden heißt heute gendergemäß Dekonstruieren der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau sowie ihres „geschlechterstereotypischen“ Verhaltens – der traditionellen Rollenverteilung in der Familie. Der Politologe Stefan Fuchs stellt in seinem Buch „Gesellschaft ohne Kinder“ fest: „Diese Familienpolitik paßt sich nicht gesellschaftlichem Bewußtseinswandel an, sondern treibt diesen aktiv voran beziehungsweise versucht, ihn selber zu initiieren.“

Seitdem fließt viel (Steuer-)Geld. Krippen schießen wie Pilze aus dem Boden. Und wenn sie einmal da sind, dann müssen sie auch voll werden. Kinder in die Einrichtungen – Mütter in den Job. „Vereinbarung von Beruf und Familie“ beziehungsweise die Work-Life-Balance halten – so wohlklingend kommt die „Überwindung der Mutterrolle“ daher. Da darf es keine finanziellen Fehlanreize für ein längeres Beieinandersein von Mutter und Kind geben. Der Kampf gegen das Betreuungsgeld, das sich laut Statistischem Bundesamt wachsender Beliebtheit erfreut, wie im April gemeldet wurde, ist daher im Eigentlichen ein Kampf gegen das ausgeübte Muttersein: Es steht der „Dekonstruktion der Mutterrolle“ im Wege.

Ist aber das „geschlechterstereotypische“ Rollenverhalten einer Mutter wirklich ausschließlich kulturell geprägt? Ist es veraltet? Und wie ist das eigentlich mit dem Baby und seiner Rolle? Was hat es für Rollenerwartungen an uns? Und was ist überhaupt eine „Rolle“?

Die Sehnsucht kleiner Kinder ist gleich, solange es die Menschheit gibt. Babys sind da sehr konservativ und gleichzeitig zeitlos modern. Liebevolle Mütterlichkeit als archetypisches Verhaltensmuster ist keine deutsche Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Der Rollenbegriff ist eine der zentralen Grundkategorien der Soziologie. Danach beinhaltet die soziale Rolle die Erwartungen an den Träger einer sozialen Position bezüglich seines Verhaltens. Die Einhaltung dieser Rollenmuster wird von den entsprechenden Interaktionspartnern erwartet. Aus Sicht der Soziologie sind die Rollenerwartungen in hohem Maße kulturell vorgegeben. Der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf, der bereits Anfang der 1950er Jahre den Rollenbegriff in der europäischen Soziologie etablierte, sah in der Rolle eine Einschränkung der persönlichen Freiheitsverwirklichung des einzelnen. Aus der Sicht des Feminismus war Muttersein von jeher eine Fessel.

Tatsache ist, daß Muttersein auch harte Arbeit ist, die ohne Verzicht und Hingabe nicht funktioniert und die einen an die eigenen Grenzen bringen kann. Elan und Motivation sinken um so eher auf null, je weniger diese Arbeit anerkannt und unterstützt wird. Schlimmer noch, denn die Mutter wird derzeit für die kindliche Entwicklung eher als sinnlos oder gar schädigend hingestellt. Es ist zum Davonlaufen. Infamerweise wird genau das inzwischen in ganz Deutschland angeboten: die Befreiung der Frau von der „Fessel“ des Kinderversorgens und die Beglückung mit der (männlichen) Freiheit lebenslanger voller Erwerbstätigkeit. Als Mutter primär und verläßlich für ihr Kleinkind zu sorgen, wird als die aus dem 19. Jahrhundert überkommene soziale Erwartung im Sinne eines sozial-ideologischen, bürgerlichen Konzeptes gesehen.

Wie aber ist die Lage des Kindes als Hauptinteraktionspartner der Mutter? Wenn ein Baby schreit, hilft keine Ansprache nach etwa der folgenden Art: „Liebes Baby! Hör gut zu. Ich bin zwar deine Mama, aber wir leben in einer modernen Zeit, und ich bin eine moderne Frau. Das mußt du verstehen. Ich muß auch an mich denken. Ich kann einfach nicht ständig für dich dasein. Wir brauchen das Geld, und ich muß ja auch an meine berufliche Entwicklung denken. Nur Mutter sein, das geht einfach nicht. Außerdem gibt es ja auch noch andere nette Leute auf der Welt. Du wirst schon zurechtkommen. Sei einfach ein liebes, modernes Baby. Schließlich plane ich ganz bewußt unsere Qualitätszeiten ein.“

Das Kind hat Erwartungen, die ihm primär instinktgemäß vorgegeben sind. Es weiß nichts von dieser Welt und von den sozial-kulturellen Verhältnissen, in die es hineingeboren wurde. Aber es will leben. Es bringt also keine kulturell geprägten Erwartungen, sondern Überlebensinstinkte mit auf die Welt.

Schwangerschaft und Geburt sind biologische Vorgänge: hochkompliziert und von Hormonen gesteuert. Nach der Entbindung in eine helle, laute Welt braucht unser Kind sofort wieder Bindung und zwar an genau diese Person, in deren Körper es sein ganzes vorheriges Leben verbracht hat. Es sehnt sich nach dem Herzschlag seiner Mama, der Wärme ihres Körpers, ihrer Stimme und nach dem Saugen an ihrer Brust, um das bis dahin unbekannte Hungergefühl zu stillen. Wenn dem Kind sofort nach der Geburt diese Nähe gewährt wird, entsteht die so wichtige erste Bindung.

Die Mutter wird im Übermaß von den Stillhormonen Oxytocin und Prolaktin „überflutet“ – sie verliebt sich in ihr Kind. Das runde Köpfchen, das Stupsnäschen, die süßen Händchen, die zarte Haut – alles das rührt uns tief an und ist geeignet, unser Herz zu erobern. Die mütterliche Empathie und Hingabebereitschaft, die in der Frau angelegt ist, erwacht hier. Sie kann aber auch beeinträchtigt oder verhindert werden, wenn diese Nähe zum Beispiel durch die Klinikroutine nach der Entbindung nicht ermöglicht wird.

Werden jedoch die Erwartungen des Babys nach unmittelbarer Nähe, Bindung und Stillen erfüllt, so wie sie sich spontan ergeben, fühlt es sich sichtlich wohl. Es gedeiht und wirkt ausgeglichen. Die Mama-Nähe ist seine Wellness-Oase. Stillen, Tragen, gemeinsames Schlafen im Familienbett, liebevolles Ansehen, Ansprechen, Berühren und verläßliches Dasein – das ist die Sehnsucht kleiner Kinder, solange es die Menschheit gibt. Babys sind da sehr konservativ und gleichzeitig zeitlos modern. Liebevolle Mütterlichkeit als archetypisches Verhaltensmuster ist keine deutsche Erfindung des 19. Jahrhunderts, wohl aber wurde sie teilweise in dieser Zeit als Quelle des Kindeswohls wiederentdeckt.

Inzwischen gibt es genügend wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie sehr die ursoziale Beziehung zwischen Mutter und Kind an biologische Zusammenhänge geknüpft ist. Der englische Psychiater Donald Winnicott (1896–1971) erkannte bereits: „Wesentlich ist die Kommunikation zwischen Mutter und Kind, die sich in Anatomie und Physiologie lebendiger Körper abspielt.“ Das beschreibt die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind, die Verbundenheit mit allen Fasern, die gelebte Haut-Nähe mit ihrem Einfluß auf Stillfähigkeit und individuelle Muttermilchzusammensetzung.

Der Neurophysiologe Manfred Spreng schreibt 2014 in dem Artikel „Frauen und Kinder zuerst“ über den prä- und postnatalen Einfluß der Mutter für Bindung und Sprachanbahnung: „Es ist allgemein bekannt, daß bereits ab der 14. bis 24. Entwicklungswoche der Fötus im Mutterleib flüssigkeitsgekoppelt (über das Fruchtwasser, Anm. der A.) die Mutterstimme hört und nach der Geburt voll darauf fixiert ist. Demgemäß sind weder der nicht flüssigkeitsgekoppelte Vater noch andere Frauenstimmen in der Lage, eine optimale und adäquate dyadenspezifische, also auf enger Zweierschaft basierende Beziehung zu dem Neugeborenen aufzubauen.“

Die Bindungsforscherin Karin Grossmann beschrieb 2002, daß im Körper des Kindes Endorphine und das Wachstumshormon Somatotropin ausgeschüttet werden, wenn es in Mutternähe ist. Sie vermutete überdies, daß solche Vorgänge in bezug auf eine Erzieherin nicht stattfinden. Richard Bowlby, der Begründer der Bindungsforschung, weist darauf hin, daß sich die Größe des Kindergehirns in den ersten zwei Lebensjahren verdoppelt und daß bis zur Dreijährigkeit fast ausschließlich die emotionalen Bereiche des Gehirns entfaltet werden. Die amerikanische Hirnforschung entdeckte 1997, daß jede positive emotionale Stimulierung das Synapsenwachstum und ihre Vernetzung fördert. Die im Körper der Mutter begonnene körperliche und emotionale Entwicklung des Kindes kann also nur an ihrem Körper fortgesetzt werden.

Der amerikanische Hirnforscher Allan Schore wies auf einer Kinderärztetagung 2012 darauf hin, daß im Zuge der vertrauten Zweisamkeit zwischen Mutter und Kind die annehmende mütterliche Reaktion die negativen Gefühle des Kindes minimiert und die positiven maximiert. Die mit dem Kind emotional mitschwingende mütterliche Reaktion „stillt“ das kindliche Gehirn und schafft die Basis dafür, daß es später selbst Ausgeglichenheit herstellen kann. Ausgeglichenheit ist der umgangssprachliche Ausdruck für eine gesunde Streß- und Affektregulationsfähigkeit des Gehirns.

Mit der Vergrößerung des Aktionsradius etwa ab der Einjährigkeit beginnt das Kind zu erahnen, daß es eine eigene von der Mutter abgetrennte Person ist. Zu der Freude, daß es selbst krabbeln oder tappeln kann, paart sich ambivalent ganz schnell die Verunsicherung des Einzelnseins, die wiederum nach Rückversicherung zur Mama verlangt. Die Bindungssicherung macht das Kind fähig, zu anderen Personen Beziehungen aufzubauen, beispielsweise zum Vater. Der Vater ist für ein Kind genauso wichtig wie die Mutter. Nur ist seine Bedeutung eine andere. Es kommt von der Einheitsbeziehung mit der Mutter her, die Beziehung zum Vater wird dagegen erst neu aufgebaut. Sie kann stillen, er nicht. Er will es eher (heraus-)fordern und mit ihm die Welt entdecken. Mit ihm wird die Zweierschaft zur Dreierschaft (Triangulierung).

Menschenkinder haben überdies einen besonderen Überlebensbonus gegenüber anderen Lebewesen: Sie können zur Not auch zu anderen Personen als der Mutter eine sichere Primärbindung aufbauen, wenn diese Person zugetan und stabil da ist. So kann auch ein Vater oder jemand aus der Verwandtschaft zur Primärbindungsperson werden. Not ist dann gegeben, wenn die Mutter stirbt. Das Einspringen einer anderen Person wird dann notwendig.

Heute schwingt sich unsere Gesellschaft auf, einen Notzustand künstlich herbeizuführen, zum Beispiel durch den zunehmenden finanziellen Druck auf Familien. Dieser Notzustand wird nicht nur zur Norm gemacht, sondern in Form von Krippenbetreuung zum Königsweg für die kindliche Entwicklung, Bildung und sein späteres Fortkommen erklärt.

Alle seriösen Studien belegen indes das Gegenteil, und keine kann der frühen Fremdbetreuung eine Unbedenklichkeit ausstellen. Die Risiken dieser sind in der zu hohen Streßbelastung für das junge Gehirn durch Trennung von der Hauptbindungsperson begründet: das Kind schreit, wenn die Mama geht. Wenn es aufhört, ist das nicht etwa ein Lernerfolg, sondern Resignation. Der meßbare Trennungsstreß kann unabhängig von der Qualität der U3-Betreuung die Streßregulationsfähigkeit lebenslang beeinträchtigen sowie Verhaltens-, Lern- und Beziehungsprobleme nach sich ziehen, wie die zwischen 1991 und 2007 laufende amerikanische Langzeitstudie des National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) ergab.

Der Rollenbegriff „Mutter“ taugt nicht: Das Baby kann sich seinerseits aus seiner „Rolle“, aus seinen instinktiven Erwartungen als Baby nicht lösen, so daß sich infolgedessen die Mutter ihrerseits aus ihrem Rollenverhalten als Mutter nicht ohne Folgen lösen kann.

Die frühe Wunde bereitet oft späte Schmerzen: Alle seelischen, psychosomatischen und einige körperliche Erkrankungen haben ihre Ur-Sache in unsicherer früher Bindung, so folgert Allan Schore aus den aktuellen Forschungsergebnissen. Der kanadische Neurobiologe Michael Meaney, der 2014 den hochdotierten Klaus J. Jacobs Research Prize verliehen bekam, verweist auf Versuche mit Ratten, deren Ergebnisse auch auf den Menschen anwendbar seien: „Je intensiver die mütterliche Brutpflege, desto weniger empfindlich reagieren die Kinder im späteren Leben auf Streß. Und umgekehrt.“ Er schließt daraus unter anderem, daß für Kinder aus schwierigem Milieu „jene Hilfen am effektivsten (seien), die vor allem den Eltern helfen, mehr Verständnis, Geduld und Umsicht bei der Erziehung ihrer Kinder walten zu lassen“.

Mutterliebe ist also nicht einfach ein sozial-ideologisches Konzept, das man annehmen oder verwerfen kann, sondern sie ist das Gedeih-Medium eines Kindes auf ganz existentieller Ebene. Sie ist eine (Über-)Lebensaufgabe. Der Rollenbegriff „Mutter“ taugt nicht, um das Verhältnis zwischen Mutter und Kind zu beschreiben: Das Baby kann sich seinerseits aus seiner „Rolle“, aus seinen instinktiven Erwartungen als Baby nicht lösen, so daß sich infolgedessen die Mutter ihrerseits aus ihrem Rollenverhalten als Mutter nicht ohne Folgen lösen kann. Die Frage ist jedoch, inwieweit eine Kultur willens und in der Lage ist, das zu akzeptieren und Gedeihbedingungen für die Mütterlichkeit zu schaffen.




Hanne K. Götze, Jahrgang 1960, arbeitet seit vielen Jahren auf den Gebieten der Mütter- und Familienberatung. Die verheiratete Mutter von vier Kindern stammt aus Thüringen und ist gelernte Diplom-Bibliothekarin. Sie veröffentlichte das Buch „Kinder brauchen Mütter. Die Risiken der Krippenbetreuung – Was Kinder wirklich stark macht “, Ares Verlag, Graz 2011. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über die Folgen frühkindlicher Fremdbetreuung und die Erkenntnisse der Bindungsforschung („An Liebe satt werden können“, JF 28/14).