© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/15 / 26. Juni 2015

„Der Friede ist die Ruhe der Ordnung“
Die Staatenordnung der Pentarchie: Ein angestrebtes Gleichgewicht der Kräfte in Europa nach dem Wiener Kongreß garantierte fast einhundert Jahre Stabilität
Eberhard Straub

In dem unseligen Kampf des Tages – in einem Kampf, dessen Ausgangspunkte auf Fehlern ruhen und dessen Ende nicht berechenbar ist  – kann sich der Staat der Mitte weder in der östlichen noch in der westlichen Richtung ins Schlepptau nehmen lassen. (...) Wir sind berufen, den Ausschlag in der Richtung des herzustellenden Friedens, das heißt des definitiven Endes der heillosen Lage zu geben, aber keineswegs uns als Avantgarde des Ostens gegen den Westen noch des Westens gegen den Osten mißbrauchen zu lassen.“ Das bemerkte der greise Fürst Metternich im April 1854 während der Krimkrise, die England und Frankreich verschärfen wollten, um Rußland, eine der fünf Großmächte des europäischen Systems, wie es auf dem Wiener Kongreß 1814 bis 1815 eingerichtet worden war, aus Europa abzudrängen und auf ein Großfürstentum Moskau zu beschränken. 

Kriegführende Mächte wurden nicht kriminalisiert

Voller Sorge beobachtete dieser große Europäer, der deutsche Interessen deshalb gerade nicht vernachlässigte, wie die Wiener Ordnung, die nicht zuletzt auf seine Ideen zurückging, vom „Westen“ aus, der sich erstmals vorübergehend als „Wertegemeinschaft“ rechtfertigte, bedroht wurde und damit der Frieden in Europa. „Der Friede ist die Ruhe der Ordnung.“ So bestimmte ihn Fürst Metternich nach 1815. Der Friede und die Ordnung sind gefährdet, sobald immer bewegliche, diskutable Interessen, in einen „Dunst“ von Worten – Zivilisation, Freiheit, Recht, Licht und Aufklärung – gehüllt, reine Machtpolitik moralisch überhöhen sollen zum „legitimen“ Kampf der Guten und Rechtschaffenen gegen einen Despoten, Rechtsbrecher und Schurken, der wie ein Schwerstkrimineller verbrecherisch handelt. 

Den Staat der Mitte, den von Österreich und Preußen geführten Deutschen Bund, hielt Metternich in dem schrecklichen Durcheinander moralischer und militärischer Aufrüstung für die „Rettungsarche Europas“. Die beiden deutschen Großmächte müßten mit dem Bund zusammen im Sinne der Ordnung „mit einer Masse von 76 Millionen Menschen dem Westen wie dem Osten ein Veto zurufen, das niemand ungestraft überhören kann“.

Zu diesem Veto der Einigkeit kam es nicht, weil sich Österreich auf die Seite „des Westens“ schlug, ohne jedoch bereit zu sein, für den „Westen“ und dessen Interessen, die nicht die seinen waren, Krieg zu führen. Daraus ergaben sich viele Mißverständnisse zum Schaden Europas. Ein allgemeiner Krieg konnte dennoch vermieden werden, weil Preußen und der Deutsche Bund in europäischer Verantwortung neutral blieben und Rußland selbstverständlich als Teil eines Systems kollektiver Sicherheit behandelten, wie es auf dem Wiener Kongreß geschaffen worden war. 

Insgesamt bestätigte indirekt die töricht vom Zaun gebrochene Affäre, bekannt als der Krimkrieg, die Europa mehr als ein Jahrzehnt aus dem Gleichgewicht brachte, warum zum Vorteil der Ruhe die fünf Großmächte auf dem Wiener Kongreß eine starke Mitte vorsahen. Österreich und Preußen sollten nämlich in der Lage sein, Frankreich und Rußland daran zu hindern, den Deutschen Bund als Schauplatz für ihre politischen und militärischen Akrobatenkunststücke zu gebrauchen, und Frankreich und Rußland überhaupt auseinanderhalten, während sie gute Beziehungen zu ihnen unterhielten und auf diese Art tatsächlich für die Balance der Großmächte sorgten. 

Gerade der britische Vertreter auf dem Wiener Kongreß, Lord Robert Stewart Castlereagh, unterstützte Metternich energisch in solchen Überlegungen. Die locker organisierte deutsche Mitte wurde durch die enge Verbindung zu Italien ergänzt, dessen Norden zu Österreich gehörte und wo in mehreren kleineren Staaten habsburgische Nebenlinien regierten. Europa verfügte also über einen Schwerpunkt, der von Lübeck bis Palermo und von Aachen bis Czernowitz reichte, ein Europa mitten in Europa. 

Das Konzert der fünf Großmächte verstand sich nicht als Verein völkerrechtlicher Pedanten, die politische Fragen mit Rechtsmittelbelehrung zu lösen versuchten. Die praktischen Staatsmänner folgten der bewährten Vernunft der Staaten, daß ein Gleichgewicht dauernd beweglich bleiben muß, um in den wechselnden Situationen jeweils neu bestimmt werden zu können. Die Wiener Staatenordnung war sehr flexibel, weshalb sie bis 1914 dauerte und Europa die längste Friedensperiode in seiner Geschichte ermöglichte. 

Der Krieg war nicht geächtet worden und galt weiterhin als letztes Mittel der Politik, sofern diplomatische Verhandlungen scheiterten. Die Kriege, zu denen es kam, dauerten nur kurze Zeit und blieben regional begrenzt. Kriegführende Mächte wurden nicht kriminalisiert, und das stets deutbare Völkerrecht noch nicht sakralisiert. Darin folgten die Europäer den weltklugen Einsichten, denen die nüchternen Staatsmänner auf dem Wiener Kongreß nach 23 Jahren Krieg mit Frankreich wieder zur Anerkennung verholfen hatten. Ohne Frankreich konnte Europa nicht zur Ruhe finden. Die Sieger durften den dringend benötigten Mitspieler im europäischen Konzert nicht verletzen oder unzumutbare Friedensbedingungen zumuten. 

Es gab keine Kriegsschuldfrage, keine Kriegsverbrecherprozesse und keine ideologische Umerziehung. Der Regimewechsel war nicht von vornherein angestrebt worden, da vor allem Metternich fast bis zur Niederlage des französischen Kaisers hoffte, sich mit ihm über einen Frieden der Vernunft zu verständigen. Frankreich wurde gebraucht, und das Vergangene durfte nicht über die Gegenwart herrschen. Außerdem hatten fast alle europäischen Monarchen mit Napoleon kollaboriert, freiwillig oder gezwungenermaßen. Da ließ man besser das Gewesene gewesen sein und dachte an eine gedeihliche Gegenwart und Zukunft nach so langer Kriegszeit. 

Die Einbeziehung Rußlands war wichtig für die Balance

Das künftige Europa sollte eine Gemeinschaft der Staaten, nicht der Nationen sein. Das Selbstbestimmungsrecht wurde als für Europa untauglich erkannt und verworfen. Österreich und Rußland waren Vielvölkerstaaten sowie das Osmanische Reich, noch immer ein Teil Europas, aber erst nach dem Krimkrieg 1856 auch aufgenommen in die politische Gemeinschaft des europäischen Staatensystems. Alle Staatsmänner wußten, daß die Auflösung dieser übernationalen Ordnungsmächte eine Katastrophe bedeuten würde, aus der Europa kaum herausfinden könnte. 

Das Verdienst des Kongresses liegt nicht zuletzt darin, die Nationalisierung und damit Balkanisierung Europas verzögert zu haben. Die nationale Einigung der Italiener und der Deutschen, 1815 in Wien nicht vorgesehen, hob die Wiener Ordnung nicht grundsätzlich auf. Denn Bismarck, der „Schüler“ Metternichs, verbündete das Deutsche Reich sofort mit Österreich-Ungarn, Italien kam hinzu, so daß eine starke, übernationale Mitte nur anders organisiert an die Stelle der früheren trat, immer bemüht, mit Rußland in gutem, engem Einvernehmen zu stehen. Rußland blieb ein Teil Europas. 

Im Großen Krieg, im Ersten Weltkrieg, verloren die Europäer ihre Fähigkeit, zu einem Verständigungsfrieden zu finden. Seitdem kam ihnen auch ein geistiger Begriff von Europa abhanden, weshalb die Europäische Union sich mittlerweile lieber als Teil des „Westens“ versteht und als Agenten weltweiter Verwestlichung. Zu einer neuen Ordnung hat Europa, zu dem auch Rußland gehört, seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gefunden. Darin liegt die von ihm ausgelöste Urkatastrophe, sofern sie nicht als bloße Redensart dienen soll. 

Der Dunst der Worte und Werte und die Umdeutung des Westens zur Wertegemeinschaft und damit zum Religionsersatz vermag kaum die Ratlosigkeit zu verbrämen, die sich unter Europäern breitmacht, denen Europa allmählich aus dem Blick gerät. Den Wiener Staatsmännern kann man vielleicht vorwerfen, nur an Europa gedacht zu haben. Sie kümmerten sich um das Nächstliegende und verschafften Europa trotz einiger Unruhen hundert Jahre der Stabilität. Die heutigen Politiker reden von der Ordnung der Welt wohl vor allem, weil sie nicht wissen, wie im europäischen Haus Ordnung zu schaffen sei.