© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/15 / 03. Juli 2015

„Historisch unredlich“
Geschichtspolitik: Niedersachsens erster Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf wurde aus dem Straßenbild getilgt / Neue Erkenntnisse entlasten den SPD-Politiker
Christian Vollradt

Wi weet beide: de Welt dreiht sik.“ Unnachahmlich norddeutsch-resolut hatte der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961), Nieder­sachsens erster Ministerpräsident, seinem Duzfreund und politischen Gegner Heinrich Hellwege (Deutsche Partei) 1955 klargemacht: „Wir wissen beide: die Welt dreht sich.“ Hellwege hatte Kopf entthront, doch vier Jahre später wurde aus dem Nachfolger ein Vorgänger, und Kopf übernahm erneut das Amt des Regierungschefs. Die Welt hatte sich weiter gedreht. 

Vielleicht würde der legendäre „rote Welfe“ mit derselben Gelassenheit auf jenen Zirkus reagieren, den man aktuell in Hannover um die Frage des moralisch korrekten Gedenkens an ihn veranstaltet. Die Fallhöhe beim Sturz vom Sockel war beachtlich; doch neue Erkenntnisse lassen am Sinn des Denkmalsturms mehr denn je zweifeln. 

Rückblick: Im Juni 2013 war die historische Kommission für Niedersachsen und Bremen mit einer Analyse beauftragt worden, die „eine ausreichend differenzierte geschichtspolitische Bewertung der Lebensleistung“ Kopfs erlaubt. Anlaß war die Veröffentlichung einer Biographie des früheren Landesvaters (und -gründers). Die Historikerin Teresa Nentwig führt darin aus, daß Kopf während der NS-Zeit unter anderem als Mitarbeiter der „Haupttreuhandstelle Ost“ (HTO) in Oberschlesien an der Enteignung jüdischer Familien beteiligt gewesen sei und nach dem Zweiten Weltkrieg falsche Angaben zu seiner beruflichen Tätigkeit gemacht habe. 

Für die Kommission stand fest: „Es besteht nach der derzeitigen Kenntnislage kein vernünftiger Zweifel an der Feststellung, daß Kopf aufgrund dieser Tätigkeiten – sowohl in der Privatwirtschaft wie in der HTO – nach allen denkbaren Maßstäben als moralisch-politisch belastet zu gelten hat.“ Wegen seiner „unstrittigen Lebensleistung als zweimaliger Ministerpräsident, mehrfacher Landesminister und parteiübergreifend anerkannter Landes- wie Bundespolitiker“ sei es jedoch gerechtfertigt, so die Historiker, „trotz aller Bedenken, ihn in dieser Rolle als Gründerfigur des Bundeslandes Niedersachsen auch weiterhin zu würdigen“. Auch wenn Kopf in heutiger Zeit kein Vorbild mehr sei, wäre es „historisch unredlich“, ihn als Teil der Vergangenheit des Landes zu leugnen. Deswegen sollte die Benennung von Straßen, Plätzen und Institutionen nach ihm beibehalten werden, „anstatt durch die Tilgung des Namens aus dem öffentlichen Bewußtsein herauszurücken“. Auch Biographin Nentwig wandte sich gegen Umbenennungen.

Dennoch votierten alle Landtagsfraktionen dafür, den Platz vor dem Parlamant in Hannover umzubenennen, und Ende März 2014 hatte der städtische Beirat zur Überprüfung von Straßennamen auf eine nationalsozialistische Vergangenheit Hannover empfohlen, den Platz umzubenennen, was die Stadt auch umgehend tat. Mittlerweile lautet die Adresse des Landtags „Hannah-Arendt-Platz 1“. Außerdem beschloß der Kulturausschuß des Stadtrats am 12. Juni 2015, der letzten Ruhestätte Kopfs auf dem Friedhof den Status eines Ehrengrabes abzuerkennen. Allerdings werde die Grabstätte als „historisch bedeutendes Grab“ unbefristet erhalten bleiben und weiterhin durch die Landeshauptstadt gepflegt werden, teilte die Pressesprecherin des Oberbürgermeisters der JUNGEN FREIHEIT mit. 

Jüngste Recherchen der Nordwest-Zeitung ergaben nun, daß einer der schwerwiegendsten Vorwürfe gegen Kopf nicht ausreichend belegt ist; nämlich der, er sei an der Schändung jüdischer Friedhöfe in Schlesien beteiligt gewesen. Zwar existiert eine Quelle, in der Kopf Verkäufe von Grabsteinen an seine Vorgesetzten meldet. Doch während Nentwig in ihrem Buch behauptet, der (in Kopfs Zuständigkeitsbereich gelegene) Friedhof in Königshütte (heute Chorzów) sei „vollständig von den Deutschen zerstört“ worden, bestätigte Renata Skoczek, Expertin vom dortigen Museum, auf Anfrage der JF, daß der Friedhof nach dem Zweiten Weltkrieg noch existierte und bis 1958 für jüdische Bestattungen genutzt wurde. Erst 1973 wurden die Grabstätten aufgelöst.