© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/15 / 03. Juli 2015

Der Traum vom Keltenstaat in der Bretagne
Nach Frankreichs Niederlage 1940 erstarkte bei bretonischen Separatisten die Hoffnung auf Autonomie
Karlheinz Weißmann

Am 3. Juli 1940 veröffentlichte der „Bretonische Nationalrat“ in Pontivy eine Proklamation. In der hieß es, er werde „zu einer von ihm selbst gewählten Stunde als Vertretung aller der Bretonen, denen das Gemeinwohl und die Ehre ihres Volkes am Herzen liegen, Maßnahmen ergreifen, um der Bretagne in ihren natürlichen Grenzen und im Geiste ihrer Geschichte einen Nationalstaat zu geben, damit sie endlich als organisierte Volksgemeinschaft in aller Entschlußfreiheit zur Wahrung der eigenen Belange leben kann“. Zu den wichtigsten Führern des Nationalrats zählten Fransez Debauvais, Olier Mordrel und Célestin Lainé. 

Die drei hatten seit den zwanziger Jahren aktiv am Aufbau einer Bewegung mitgearbeitet, die sich weder mit einzelnen Zugeständnissen der französischen Zentralregierung noch mit einer kulturellen Autonomie für die Bretagne zufriedengeben wollte. Ihnen schwebte eine Organisation nach dem Muster der irischen Fianna Fáil, Lainé sogar der Aufbau einer Untergrundarmee ähnlich der IRA vor, um der „bretonischen Nation“ ihre Souveränität zu erkämpfen. Schon 1932 war es zu einem Bombenanschlag auf ein Denkmal in Rennes gekommen, das an die Vereinigung der Bretagne mit Frankreich vierhundert Jahre zuvor erinnerte.

„Keltische Renaissance“ im 19. Jahrhundert  

1532 hatte die Halbinsel endgültig ihre staatliche Unabhängigkeit verloren, aber als Provinz bis zum Untergang des Ancien régime eine ganze Reihe von Privilegien behalten. Erst deren Infragestellung durch die Revolution führte zu einer breiteren oppositionellen Bewegung, in der sich politische, religiöse und regionale Ziele auf komplizierte Weise überlagerten. Ergänzt wurden diese Tendenzen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch ein neues, dynamisches Element, die Ideen der „Keltischen Renaissance“, die aus den keltischen Restgebieten der Britischen Inseln – Irland, Schottland, Wales, Cornwall, Isle of Man – auf das Festland übergriffen. 

Es entstand dadurch in der Bretagne ein Kulturnationalismus, der die eigene Identität gegen die mit der Modernisierung stärker werdende Französisierung bewahren wollte. Konflikte mit Paris und den staatlichen Stellen in der Provinz waren vorprogrammiert und entzündeten sich sowohl an den schulpolitischen Maßnahmen, mit denen das Bretonische verdrängt werden sollte, wie auch den kirchenfeindlichen Vorstößen der Republik im Gefolge der Dreyfus-Affäre. Trotzdem gingen die Forderungen nur selten über das Verlangen nach Gleichberechtigung des „kleinen“ im Rahmen des „großen Vaterlandes“ hinaus.

Die Situation änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, der eine deutliche Verschiebung der weltanschaulichen Schwerpunkte in der bretonischen Bewegung zur Folge hatte. Eine wesentliche Ursache dafür war die außergewöhnlich hohe Zahl an gefallenen bretonischen Soldaten; es wird von bis zu 260.000 Toten gesprochen. Hatte man von den bretonischen Mädchen, die auf Stellungssuche nach Paris kamen, immer gesagt, daß sie bestenfalls als Dienstmädchen oder Huren taugten, so schienen die bretonischen Bauern ihren französischen Kommandeuren nur als Kanonenfutter gedient zu haben. 

Der neue bretonische Nationalismus war zwar keineswegs pazifistisch, fragte aber danach, ob nicht bretonisches Blut für die Sache bretonischer Feinde vergossen worden war. In der Folge entstand eine Bewegung in der jungen Intelligenz, die den alten – den französisch-republikanischen wie den bretonisch-konservativen – Eliten mit wachsender Feindseligkeit gegenüberstand. 1931 wurde der Strollad Broadel Breiz – Parti national breton (PNB) gegründet, der den gemäßigten Kräften und dem französischen Staat offen den Kampf ansagte. 

Wie der eigentlich geführt werden sollte, blieb allerdings umstritten, bis die Zuspitzung der politischen Lage den Führern der Partei die Entscheidung abnahm. Von den französischen Behörden wegen Agitation gegen einen weiteren Krieg mit Deutschland unter Anklage gestellt, kam Lainé in Haft, Debauvais und Mordrel flohen im August 1939 nach Berlin; in Abwesenheit verurteilte sie ein Militärgericht zum Tode.

Die Anklage wegen Hochverrats erschien den französischen Behörden schon deshalb plausibel, weil die Spitze des Parti national seit Jahren Kontakte mit der deutschen Abwehr hatte. Es handelte sich dabei in erster Linie um den Versuch der Bretonen, einen Verbündeten im Kampf gegen den Hauptfeind zu finden, und um das Bemühen von deutschen Stellen, diese wie andere Minoritäten zur Destabilisierung potentieller Kriegsgegner zu nutzen. 

Die Lage wurde allerdings dadurch kompliziert, daß auf deutscher Seite eine schwer durchschaubare Konspiration von Kräften beteiligt war, die dem NS-Regime feindlich gegenüberstanden, sich aber gleichzeitig seiner Institutionen zu bedienen suchten. Eine Schlüsselrolle im Ablauf der Ereignisse vom 3. Juli 1940 kam deshalb Gerhard von Tevenar zu. Tevenar war aus der Jugendbewegung hervorgegangen und hatte sich früh dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund angeschlossen. Allerdings vertrat er Auffassungen, die mit denjenigen Hitlers kaum übereinstimmten. 

So war er der Meinung, daß nicht in den „Staats-Nationen“, sondern in den „Stämmen“ die Wirklichkeit der Gemeinschaften liege, daß nicht Deutschland, sondern Schwaben oder Bayern, daß nicht Frankreich, sondern das Elsaß, Okzitanien oder eben die Bretagne ausschlaggebende Größen beim Neuaufbau Europas sein sollten. Konzepte, die deutlich erkennbar auf Tevenars Lehrer, den nationalrevolutionären Religionsphilosophen und „Alten vom Berge“, Friedrich Hielscher, zurückgingen.

Seit dem Ende der zwanziger Jahre hatte Hielscher einen im Detail nur noch schwer faßbaren Einfluß ausgeübt und nach 1933 ernsthaft daran gedacht, den Staat Hitlers mit seinen Anhängern zu unterwandern und in seinem Sinn zu instrumentalisieren. So erklären sich auch die Vorstöße Tevenars, der seit 1934 Kontakt zu Mordrel, Debauvais und Lainé aufnahm, sie auch mit Hielscher bekannt machte, um dann als Geschäftsführer der neugegründeten „Deutschen Gesellschaft für keltische Studien“, als Journalist wie als Mitarbeiter des Amtes Ausland Abwehr daranzugehen, die eigentlich zuständigen Behörden zu überspielen, um mit Hilfe der Kader des PNB in der Bretagne vollendete Tatsachen zu schaffen.

Deutsche Militärverwaltung zeigte sich desinteressiert

Der kühne Vorstoß scheiterte allerdings rasch. Zwar gab es innerhalb der NS-Hierarchie – im Umfeld Werner Bests als Leiter der Abteilung Verwaltung im Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers Frankreich, auch in der Organisation Todt – durchaus Bereitschaft zur Unterstützung der Bretonen, aber keine Entscheidungsgewalt und jedenfalls keine Zielsetzungen, die der „Reichs“-Idee des Hielscher-Kreises entsprachen. 

Die Militärverwaltung im besetzten Frankreich wollte Pétain jedenfalls nicht durch die Unterstützung von Separatisten verstimmen, und Hitler hatte lediglich Interesse an einer Grenzkorrektur in Ostfrankreich. Hinzu kam, daß die bretonischen Nationalisten ihren Rückhalt weit überschätzten. Ein Bericht der damals in der Bretagne stationierten 6. Armee merkte nüchtern an: „In breiten Schichten der Bevölkerung steht man den Autonomiebestrebungen teilnahmslos, zum Teil ablehnend gegenüber. Anerkennung bretonischer Eigenart und gewisse Selbständigkeit auf kulturellem Gebiet sind zwar gewünscht, das Bestreben nach politischer Selbständigkeit hat aber offenbar nur wenig Anhänger.“

Die Folge war, daß die Besatzungsmacht die Nationalisten zwar in gewissem Rahmen gewähren ließ, aber allzu entschiedene Vorstöße unterband. Der schwer kranke Debauvais resignierte schon im Dezember 1940, Mordrel wurde zum Rückzug gezwungen, während Lainé zuletzt noch daranging, eine „Bretonische Armee“ aufzubauen und der Waffen-SS zur Verfügung zu stellen. Ein Plan, der schon an der marginalen Größe des Verbandes – im Höchstfall sechzig Mann – scheiterte. Zum Zeitpunkt der alliierten Invasion in der Bretagne war Debauvais bereits verstorben. Mordrel und Lainé mußten wie andere Kollaborateure bei Kriegsende fliehen und wurden ein zweites Mal zum Tode verurteilt. Erst nach Jahrzehnten im Exil hat Mordrel seine Heimat 1972 wiedergesehen, Lainé entkam mit Hilfe Hielschers nach Irland, wo er unter dem Schutz der IRA bis zu seinem Tod 1983 unerkannt lebte.