© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Der Comandante lebt
Besuch in Venezuela: Auch zwei Jahre nach seinem Tod beherrscht Hugo Chávez die politische Bühne
Michael Johnschwager

Chávez vive!“ Dieser Eindruck teilt sich dem Besucher der venezolanischen Hauptstadt unweigerlich mit. Die Erinnerung an Oberstleutnant Hugo Chávez ist auch noch zwei Jahre nach seinem Krebstod 2013 bei vielen seiner Landsleute präsent. Von Hochhäusern und Bahnüberführungen in Caracas blickt der legendäre Begründer des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf seine Landeskinder. Selten ist es einem Revolutionär in Lateinamerika vergönnt gewesen, nach einem gescheiterten Putsch zu einem Hoffnungsträger der Bedürftigen aufzusteigen. Seine Verdienste haben ihm inzwischen weit über die Grenzen Venezuelas Kultstatus eingebracht. Bei seinen Anhängern belegt er einen festen Platz neben den traditionellen Revolutionsführern Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara.

Die von Chávez initiierte Bolivarische Revolution hat sich die Bekämpfung der sogenannten absoluten Armut (pobreza absoluta) auf die Fahne geschrieben. In diesem Bereich fällt der eingeschlagene Kurs auch im Stadtbild ins Auge. Das Viertel Los Chaguaramos markiert die Grenze zwischen dem wohlhabenden Osten von Caracas und den einkommensschwachen Vierteln der Stadt. Einen Teil der Hauptstraße dominiert ein imposantes Hochhaus. Darin befindet sich die Universidad Bolivariana, nicht weit entfernt von der traditionellen Universidad Central de Venezuela (UCV).

Lenkt der Besucher seine Schritte westwärts, so muß er dort – entgegen der häufig verbreiteten Meinung – keineswegs um Leib und Leben fürchten. Die Caraquenos  bewegen sich entspannt auf den Straßen ihrer Stadt, auch in  den weniger begüterten Vierteln. An den Supermärkten bilden sich zuweilen Schlangen, da immer wieder Engpässe wichtiger Konsumgüter auftreten, die importiert werden müssen. Die Regierung Nicolás Maduro begegnet der Situation auf der globalen Schiene. 

Amtsvorgänger Chávez brachte einst seine Wirtschaftsgemeinschaft „Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas“ (ALBA) auf den Weg. Die dient den Märkten beteiligter Länder als Instrument der wirtschaftlichen Integration Lateinamerikas. Auf der Basis solidarischer Kompensation können ALBA-Mitgliedsstaaten den Import venezolanischen Erdöls mit Waren- und Dienstleistungen bezahlen.

Venezuela wurde zahlreichen Immigranten aus Portugal und Italien sowie von den Kanarischen Inseln zur neuen Heimat. Zahlreiche italienische Restaurants sind zuletzt chinesischen Gastronomen gewichen. Ein nicht zu übersehendes Indiz, daß die Volksrepublik China ihren Fuß in die Tür der Wirtschaft des bedeutenden Erdölproduzenten gesetzt hat.

Die generell instabile Lage vieler Länder des Subkontinents läßt die Menschen dort aufhorchen, und sie richten ihren Blick auf die Entwicklung in Venezuela seit Beginn des neuen Jahrtausends. Obwohl von Chávez ins Amt gehievt, fällt es seinem Nachfolger Maduro nicht leicht, aus dem Schatten seines legendären Förderers zu treten und an Profil zu gewinnen. Seine Außenpolitik führt beständig den vorgegebenen Weg einer kontinenteübergreifenden Solidaritätsbewegung fort. 

Entstanden ist ein kontinuierlich aufgebautes global operierendes Netzwerk kultureller Zusammenarbeit, geeignet das Vermächtnis des Hugo Chávez benachteiligten Menschen in zahlreichen Schwellen- und Entwicklungsländern näherzubringen. Am Beispiel Venezuelas orientieren sich heute lateinamerikanische Regierungen, die in der Vergangenheit nicht für sozialistisches Gedankengut standen: Argentinien, Bolivien und Ecuador. 

Mehr Selbstbestimmung und direkte Demokratie

Aber die Strahlkraft des venezolanischen Modells geht weit über Lateinamerika hinaus. Mitte Juni trafen sich Regierungsvertreter Lateinamerikas mit ihren EU-Kollegen in Brüssel zum CELAC-Gipfel. Parallel dazu fand der sogenannte Gipfel der Völker in der belgischen Kapitale statt. Hierzu trafen nicht nur Latinos zusammen, die gemeinsame Interessen ausloteten und  betonten. Von venezolanischer Seite befördert, bekundeten auch junge Leute aus Osteuropa und dem Nahen Osten ihre Solidarität mit den Zielen der Bolivarischen Revolution und dem damit einhergehenden Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Deutlich artikulieren sie ihre Zielsetzung, ihr Dasein selbstbestimmt gestalten zu wollen. Ihrer prekären Lage sehr wohl bewußt, fordern sie direkte Demokratie ein, wollen künftig teilhaben an den Entscheidungsprozessen und ihren Einfluß geltend machen. Den Ruf nach wahrhaftigen Führungsfiguren formulieren sie als Reim: Con Chávez y Maduro – el pueblo está seguro! (Mit Chávez und Maduro ist das Volk auf der sicheren Seite). 

Daß Venezuelas außenpolitische Initiativen weit über seine Grenzen hinaus deutliche Spuren hinterlassen haben, findet in den gängigen Medien wenig Beachtung. So verlautbart ein Syrer, daß viele Ladeninhaber in Damaskus ihre Geschäfte schlossen, als sie die Nachricht vom Ableben des Hugo Chávez erreichte.