© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/15 / 10. Juli 2015

Die letzten Kadetten
Bis 1920 prägte zwei Jahrhunderte lang die frühe Militärausbildung Generationen preußischer Offiziere
Cassian Heidt

Am 20. März 1920 zogen die Zöglinge des preußischen Kadettenkorps ein letztes Mal in Paradeformation durch die Straßen Berlins. Der anwesende frühere Kadett Ernst von Salomon schildert den ergreifenden letzten Moment, der zwei Jahrhunderte Tradition begrub: „Die Kadetten grüßten ihr sterbendes Korps. Die Fahnengruppen präsentierten. Die Fahnen rückten in den Hof des alten Kriegsministeriums. Die Kadetten präsentierten. Die Fahnenträger trugen die Fahnen hinein, sie verschwanden im dunklen Torweg. Das Kadettenkorps hatte aufgehört zu bestehen. ‘Wegtreten!’“ 

Wie jedes Erziehungskonzept war die Kadettenanstalt Ausdruck einer bestimmten Zeit und daher als Sinnbild des kaisertreuen Milieus vielen sozialdemokratischen Gesellschaftsarchitekten der jungen Weimarer Republik ein Dorn im Auge. Am Wesen der Kadettenanstalten hatten sich schon immer die Geister geschieden. Kaum eine Institution rief eine solch ambivalente Reaktion in zeitgenössischen Debatten und autobiographischer Literatur hervor. Was den einen die Schule der Nation war, galt anderen als unerträglicher Standesdünkel. Mancher erblickte in den Kadettenkorps die Grundlage des preußischen Dienstethos, ein Leben in Kameradschaft und Genügsamkeit, für andere stellten sie wahr gewordene Höllen von sadistischer Grausamkeit dar, eine protototalitäre Institution, die gebrochene Persönlichkeiten erzeugte.?

Gegründet wurde das Königlich Preußische Kadettenkorps 1716 vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., um die heranwachsenden Adelssöhne als kommende Offiziersgeneration im gewünschten Sinne zu prägen. Schnell sprossen weitere Ableger des Erfolgsmodells preußenweit aus dem Boden, und im Kaiserreich bestand das Korps aus Anstalten in Plön, Köslin, Potsdam, Bensberg, Wahlstatt bei Liegnitz, Naumburg, Oranienstein, Karlsruhe sowie der Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde. Des weiteren gab es noch regional eigenständige Nachahmer wie das Kadettenkorps in Sachsen oder Bayern. 

Frühes Selektionskriterium für preußischen Generalstab

Zögling einer Kadettenanstalt zu sein, war eine Frage des Ansehens. Die meisten der Kadetten stammten aus alten preußischen Adelsgeschlechtern mit militärischer Tradition. Viele Größen der preußischen beziehungsweise deutschen Militärgeschichte von Boyen über Hindenburg bis Guderian hatten die Kadettenausbildung durchlaufen. Der Besuch einer dieser Einrichtungen galt als ein Selektionskriterium für den Generalstab. So bildete sich schon in frühen Jahren eine fest mit soldatischen Werten und Fähigkeiten verbundene Identität bei diesen Offizieren, die einzigartig war und es dem deutschen Heer ermöglichte, zum „Genius des Krieges“ (Trevor Dupuy) zu avancieren. 

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Anstalten zu einem attraktiven Zielort für das bürgerliche Milieu, welche durch die Entsendung ihrer Söhne den sozialen Aufstieg der Familie forcieren wollten.?Direkt dem Kriegsministerium unterstellt, fehlte es den Einrichtungen nicht an finanziellen Mitteln. Die Anstalten waren hervorragend ausgestattet, verfügten über teilweise gigantische Anlagen, die neben Schulgebäuden, Kasernenblocks und Exerzierplatz sogar eigene beheizbare Schwimmhallen vorweisen konnten. 

Der morgendliche Schulunterricht war kein humanistischer Elfenbeinturm, sondern an der Praxis des Offiziersberufs orientiert. Neben Mathematik und Naturwissenschaften lag das Augenmerk auf den modernen Fremdsprachen. Mehr noch als reine Wissensvermittlung war es ausdrückliches Ziel, den Charakter der Zöglinge zu prägen. Gemäß dem Motto der Kadettenhauptanstalt martis et minervae alumnis war der Nachmittag der militärischen Ausbildung vorbehalten. Die Kadetten erlernten die Grundlagen des soldatischen Verhaltens, exerzierten stundenlang und nahmen an Wehrübungen teil. Neben einem umfangreichen und harten Sportprogramm sollten Reitunterricht und Mutproben den „Herrencharakter“ der künftigen Offiziere formen. Wer sich weigerte, vom Drei-Meter-Turm zu springen, wurde als charakterlich untauglich entlassen. 

In das Kadettenkorps einzutreten war ab dem zehnten Lebensjahr jederzeit möglich. Für die Jungen bedeutete es den Wechsel in eine neue und rauhe Welt. Zuerst wurden die Zöglinge von ihrem direkten sozialen Umfeld getrennt. Die Eltern waren künftig im Sprachgebrauch nur noch als „Alter Herr“ beziehungsweise „Alte Dame“ zu bezeichnen. Während des Schuljahrs war nur brieflicher Kontakt zu Personen außerhalb der Kasernenmauern möglich. Durch den minutiös geregelten Tagesablauf stand bis auf eine abendliche halbe Stunde keine Zeit zur freien Verfügung. 

Da sie ihr Dasein in den Dienst einer höheren Ordnung gestellt hatten, blieb den Kadetten das selbstvergessene Spielen ihrer Altersgenossen verwehrt. Der feierliche Ernst junger gesitteter Herren sollte sie umgeben. Auch wenn sie niemals Zeit für sich alleine hatten und durch gelebte Kameradschaft in ihre Gemeinschaft fest integriert waren, so waren viele der Jugendlichen von einem Gefühl tiefer Einsamkeit erfüllt. Manchen erschien es wie eine „Vergitterte Jugend“, so der Titel eines Berichts über das Kadettenleben.   

Junge Kadetten bildeten den harten Kern der Freikorps

Gerade Neuankömmlinge – meist nur als „Sack“ bezeichnet – hatten sich in den ersten Wochen zu beweisen und mußten sich zahlreichen Drangsalierungen stellen. Hinter dem Rücken der Erzieher hatte sich ein System von Aufnahmeritualen entwickelt, welches neben Schikanen und schmerzhaften Mutproben auch eine gehörige Tracht Prügel vorsah. Eine interne Rechtsprechung regelte Konflikte unter den Zöglingen meist auf informellem Weg und sorgte dafür, daß keine Meldung nach außen drang. 

So spielten sich innerhalb der Kadettengemeinschaft regelrechte Gewalt-exzesse ab. Besonders gefürchtet war dabei die Höchststrafe, der sogenannte Verschiß. Wer in diesen geriet, wurde für eine bestimmte Zeit aus den Reihen seiner Kameraden ausgeschlossen und wurde vollständig ignoriert, was in der isolierten Lage der Kadetten eine quälende Einsamkeit bedeutete. ?Die emotionale Vernachlässigung kompensierten die Zöglinge durch eine fast schon institutionalisierte Form homoerotischer Bindungen. Ältere Kadetten wählten sich einen jüngeren „Schuß“ (oder auch „Hase“ genannt), dem sie für dessen unerschütterliche Loyalität Schutz gegenüber der Peinigung anderer boten. 

Weit umstrittener unter den Kadetten war das Verhalten eines Schützlings, welches auch sexuelle Gefälligkeiten nicht ausschloß und ebenfalls regelmäßig vorkam. Hans Blüher erkannte schon damals: „Es ist ein breiter Storm von mannmännlichem Eros, der durch das Kadettenhaus geht.“  

Die intensive Erfahrung, Zögling des Kadettenkorps gewesen zu sein, hatte eine lebenslang prägende Wirkung. Selbst der Soziologe Leopold von Wiese, der an seiner Kadettenausbildung ungeheuer gelitten hatte, konnte sich dieser Wirkung nicht entziehen. Immer wieder suchte er die ehemaligen Stätten auf: „Ich bin stets wie in einer Wallfahrt zu ihnen zurückgekehrt, habe mich immer aller kleinsten Dinge aufs genauste erinnert und niemals mehr an einem Fleckchen Erde so wehmütig und lebensstark gehangen wie an diesen Orten. Auch als Sohn meines soldatischen Vaters war ich seitdem nie frei von dem Gefühl, eigentlich aus dem Lebensbezirk und Beruf vertrieben zu sein, dem ich gerne angehört hätte, wenn mir nicht vom Schicksal ein anderer Weg gewiesen worden wäre. Das Flüchtlingsgefühl verließ mich nicht.“

Felsenfest in der Überzeugung erzogen, die kommende Elite des Kaiserreichs zu stellen, bedeuteten die Ereignisse der Novemberrevolution für die Zöglinge den Zusammenbruch der vertrauten Welt. Die autobiographischen Dokumente ehemaliger Kadetten spiegeln die verzweifelte Stimmung dieser Tage wider. Sie fühlten sich nicht nur von der revoltierenden Gesellschaft, sondern auch von ihrem Schirmherrn, dem Kaiser, und dessen Landesflucht verraten und um ihr Schicksal betrogen. 

Mit aller Gewalt versuchten sie sich gegen den Untergang ihrer Lebensordnung zu stellen. Neben Studenten und Offizieren bildeten die jungen Kadetten den harten Kern der Freikorps. Dort waren sie aufgrund ihrer hervorragenden militärischen Kenntnisse gerne sehen. Da es verpaßt wurde, die Kadetten in die neue Republik zu integrieren, befanden sich viele von ihnen bald in einer tödlichen Feindschaft zu ihr.