© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Kein Sommermärchen
Asylbewerberzahl auf Rekordniveau: Schlagzeilen aus einem Land im Ausnahmezustand
(vo)

Der aktuelle Zustrom von Asylantragstellern stellt uns vor große Herausforderungen“, meinte Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Montag bei der Vorstellung der aktuellen Halbjahrsstatistik. Deren Zahlen haben es in sich: 179.037 Asylanträge wurden von Januar bis Juni 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. Das bedeutet einen Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum in Höhe von 132,2 Prozent. Hauptherkunftsland ist Syrien mit 34.428 Fällen (Januar bis Juni 2014: 12.888). Dicht dahinter das Kososvo mit 31.400 Anträgen (Januar bis Juni 2014: 2.437). Auch an Platz drei und vier rangieren zwei Balkanstaaten, Albanien (22.209) sowie Serbien (15.822). Aus dem Irak kamen von Januar bis Juni dieses Jahres 9.286 Antragsteller, aus Afghanistan 8.179.

In diesem Zusammenhang hob der Bundesinnenminister hervor, daß künftig schneller zwischen tatsächlich Schutzbedürftigen einerseits und Personen andererseits unterschieden werden müsse, „die unter keinem Aspekt für ein Aufenthaltsrecht in Betracht kommen“. Bundestag und Bundesrat hatten vergangene Woche eine Reform des Bleiberechts beschlossen. Sie sieht unter anderem vor, daß straffällige Ausländer sowie Asylbewerber, die für ihren Aufenthalt falsche oder unvollständige Angaben gemacht haben, künftig schneller als bisher abgeschoben werden können. Abgelehnte Asylbewerber sollen außerdem leichter in Haft genommen werden können, damit sie sich der Abschiebung nicht entziehen; zum Beispiel wenn sie sich schon öfter den Behörden durch einen Ortswechsel entzogen haben. Inhaftiert werden kann künftig auch, wer über seine Identität täuscht, Dokumente vernichtet und erhebliche Geldbeträge an einen Schleuser gezahlt hat. Zudem wird ein neuer Ausreisegewahrsam eingeführt. Über ausgewiesene oder abgeschobene Ausländer kann für mehrere Jahre eine Wiedereinreisesperre verhängt werden. Bei Ausländern, die ihre Identität verschleiern, dürfen künftig Computer oder Handys ausgewertet werden.

Um jenseits abstrakter Zahlen Folgen und manche Auswirkungen des aktuellen Asylbewerber-Zustroms zu veranschaulichen, hat die Redaktion eine Reihe verschiedener Vorfälle zusammengestellt, die sich während der Monate Juni und Juli im gesamten Bundesgebiet ereignet haben.

+++ 8. Juli Hamburg +++

Das ehemalige Kreiswehrersatzamt im Hamburger Stadtteil Harvestehude soll im kommenden Frühjahr zum Wohnheim für 220 Asylbewerber umgebaut werden. Darauf haben sich der Senat sowie der zuständige Bezirk festgelegt. Zur Zeit gilt noch ein Baustopp für das leerstehende Gebäude, nachdem Anwohner im noblen Stadtteil gegen eine Asylunterkunft geklagt hatten. Im Urteil hieß es, die Unterkunft passe nicht in ein „besonders geschütztes“ Wohngebiet. Der Bezirk änderte daraufhin den Bebauungsplan in eine „Gemeinbedarfsfläche“.

+++ 9. Juli Hamburg +++

Am 9. Juli muß das Rote Kreuz den Aufbau von Zelten für etwa 800 Asylbewerber im Stadtteil Jenfeld abbrechen, nachdem etwa 40 Menschen die Zufahrt zum Gelände blockierten. Die Polizei rückt zur Schlichtung an. Bewohner angrenzender Mehrfamilienhäuser beschweren sich, nicht über den Aufbau der Zeltunterkunft informiert worden zu sein.

+++ 1. Juli Tostedt +++

Auf dem Bahnhof von Tostedt liefern sich zwei aus Somalia stammende Asylbewerber eine nächtliche Rangelei. Im Verlauf der Auseinandersetzung wird einer der beiden offensichtlich stark alkoholisierten Männer von einem durchfahrenden Zug erfaßt und tödlich verletzt.

+++ 4. Juli Friedland +++

In Friedland bei Neubrandenburg kommt es am 4. Juli zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Asylbewerbern einer in der Nähe befindlichen Asylbewerberunterkunft und einheimischen Jugendlichen. Dabei wird einem 26jähriger Somalier von einem Jugendlichen zweimal ins Gesicht geschlagen.

+++ 10. Juli  Mehr Klagen gegen Asylbescheide +++

Der Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Stephan Kersten, warnt vor einem Verfahrensstau durch die wachsende Zahl von Klagen abgelehnter Asylbewerber. Um diese Klagen zu bearbeiten, fehlten allein im Freistaat 50 Verwaltungsrichter. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rechnet für dieses Jahr mit rund 450.000 Asylanträgen. Bislang klage rund jeder zweite abgelehnte Asylbewerber gegen dessen Entscheidung, so Kersten zum Abschluß einer Tagung der bayerischen Verwaltungsgerichtspräsidenten. Nach Einschätzung des Präsidenten des Veraltungsgerichts Ansbach, Olgierd Adolph, werde es um so attraktiver für Asylbewerber, gegen ihren Asylbescheid zu klagen, je länger die Verfahren sich hinzögen. Denn weil sie damit ihre Abschiebung hinauszögerten, könnten sie länger in Deutschland bleiben. Etwa 40 Prozent der Asylklagen stammten von Menschen aus dem Westbalkan.

+++ 7. Juli Werne +++

In einer Container-Unterkunft für Asylbewerber im nordrhein-westfälischen Werne stößt in einem Streit ein 35jähriger Algerier einem 26jährigen Guineer ein Messer in den Bauch. Der Verletzte wird ins Krankenhaus gebracht, es besteht keine Lebensgefahr. Der Täter flüchtet, eine anschließende Fahndung verläuft zunächst erfolglos, später stellt sich der dringend Tatverdächtige Algerier der Polizei. Die Ermittlungen dauern an.

+++ 13. Juli  Bundespolizei: Rekordzahl an unerlaubten Einreisen  +++

Die Bundespolizei hat im laufenden Jahr 59.000 illegal eingereiste Personen festgestellt. Damit wurden bereits jetzt mehr Fälle registriert als im gesamten Vorjahr (57.000, bisher der Höchstwert seit der Wiedervereinigung). 2014 registrierte die Bundespolizei nach Auskunft ihres Präsidenten Dieter Romann außerdem fast 27.000 unerlaubte Aufenthalte in Deutschland. Am vergangenen Mittwoch hat die Bundespolizei nun erstmals mehr als 1.000 „Flüchtlinge“ an einem einzigen Tag bei der Einreise nach Deutschland aufgegriffen.

Unterdessen teilte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) mit, die Bundespolizei schaffe es wegen Überlastung und veralteter Technik seit Monaten nicht mehr, Fingerabdrücke von allen Personen zu speichern, die an der österreichisch-bayerischen Grenze aufgegriffen werden. „Wir schätzen, daß seit Jahresanfang rund 45.000 unerlaubt eingereiste Personen nicht mehr erkennungsdienstlich behandelt wurden, obwohl dies im Asylverfahrensgesetz vorgeschrieben ist“, sagte der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Jörg Radek.

+++ 25. Juni Neustadt +++

In einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber im hessischen Neustadt kommt es zu einer körperlichen Auseinandersetzung, an der nach Einschätzung der Polizei etwa 30 Personen beteiligt gewesen sein sollen. Ein 22jähriger Asylbewerber muß im Krankenhaus versorgt werden. Während der Schlägerei stehlen Unbekannte insgesamt vier Handys und Bargeld.

+++ 9. Juni Kirchheim +++

Weil sie einen 35jährigen Landsmann in einer Asylbewerberunterkunft in Kirchheim/Teck mit einem Messer verletzt haben sollen, ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen zwei afghanische Asylbewerber (18 und 19 Jahre alt) wegen des Verdachts des versuchten Totschlags. Die Zimmerbewohner waren in Streit geraten, weil einer dem anderen nicht sein Fahrrad leihen wollte. Während der 19jährige den 35jährigen festhielt, soll der 18jährige dem sich heftig wehrenden Opfer mehrere Stiche mit einem Küchenmesser beigebracht haben. Das Opfer wurde ins Krankenhaus gebracht, wo die Stich- und Schnittverletzungen genäht wurden. Der 18jährige kam in Untersuchungshaft, der 19jährige Mittäter wurde auf freien Fuß gesetzt.

+++ 8. Juli Stuttgart +++

Wegen gestiegener Asylbewerberzahlen, fehlenden Personals und einem hohen Krankenstand haben sich die Wartezeiten in der Asylstelle des Ausländeramts erhöht. Mehrfach kommt es zu Rangeleien unter den Wartenden, zweimal muß die Polizei schlichten.

+++ 23. Juni Rosenheim +++

Nachdem sie erfahren hatten, daß sie noch weitere drei Monate in einer Schulturnhalle untergebracht werden sollen, rasten mehrere Bewohner einer provisorischen Asylunterkunft für 200 Personen im bayerischen Rosenheim aus und zerstören Teile des Inventars. Die Polizei muß mit 20 Streifenwagen ausrücken. Sowohl die Schulleitung als auch Kommunalpolitiker hatten vorher schon vor dieser  Eskalation gewarnt. Aus dem Sozialministerium des Freistaats hieß es, man wolle Turnhallen nur vorübergehend nutzen und Asylbewerber so schnell wie möglich in reguläre Unterkünfte verlegen. Angesichts von 70.000 „Flüchtlingen“, die Bayern 2015 wohl aufnehmen muß, gebe es zur Unterbringung in solchen Massenquartieren jedoch keine Alternative.

+++ 29. Juni Leutkirch +++

Zwei aus Gambia stammende Asylbewerber liefern sich in ihrer Unterkunft in Leutkirch eine tätliche Auseinandersetzung, bei der auch eine Schere zum Einsatz kommt. Die eintreffende Polizei stellt außerdem zahlreiche weitere Asylbewerber „in aufgebrachter Stimmung, teilweise mit drohender Haltung und bewaffnet mit Besenstielen und ähnlichen Gegenständen“ vor dem Gebäude fest. Die insgesamt 17 Beamten können die Lage zügig beruhigen. Ein 26jähriger Tatverdächtiger wird zunächst in Polizeigewahrsam, dann in eine andere Asylunterkunft gebracht.

+++ 22. Juni Bad Saulgaul +++

Ein 20jähriger Bewohner einer Unterkunft für Asylbewerber in Bad Saulgau wird festgenommen und in die Psychiatrie eingewiesen, nachdem er im Streit einen 23 Jahre alten Mitbewohner mit einem Messer angegriffen hatte. Auslöser des Streits war die Unordnung in der gemeinsam genutzten Küche. Gegen den 20jährigen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags eingeleitet.

+++ 6. Juli Ulm +++

Gegen neun Männer aus Angola, Gambia und Nigeria ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft in Ulm. Die Asylbewerber sollen in mindestens 20 Fällen Rauschgift verkauft haben, darunter auch an Jugendliche. Die Polizei stellte bei ihren Ermittlungen 1,4 Kilogramm Marihuana sowie über 3.000 Euro mutmaßliches Dealergeld sicher. Gegen fünf Afrikaner ergingen Haftbefehle.

+++ 11. Juni Fellbach +++

Mit mehreren Streifenwagenbesatzungen muß die Polizei den Streit in einer Asylbewerberunterkunft in Fellbach schlichten. Dort hatte ein 19 Jahre alter Bewohner randaliert und dabei etwa sechs Fensterscheiben verschiedener Zimmer der Unterkunft eingeschlagen, so daß ein Sachschaden von etwa 2.000 Euro entstanden war. In der Unterkunft trafen die Beamten „auf etwa 50 hoch erregte Personen, die auch teilweise aggressiv waren“. Der randalierende Asylbewerber bedrohte die Polizisten zunächst mit einem Stein und hielt sich eine Glasscherbe an den Hals. Nach gutem Zureden ließ er sich schließlich widerstandslos in Gewahrsam nehmen. „Der Hintergrund für die emotionalen Ausbrüche des jungen Somaliers dürfte dessen allgemeine Unzufriedenheit mit seiner persönlichen Situation sein.“

+++ 10. Juli Stuttgart +++

Baden-Württembergs Oppositionsführer Guido Wolf (CDU) fordert, die „vorübergehende Wiedereinführung“ der vor einigen Jahren abgeschafften Visapflicht für Bürger aus den Staaten des Westbalkan ernsthaft zu prüfen. Die aus diesen Ländern Eingereisten hätten nahezu keine Chance auf Anerkennung. „Ziel muß es sein, unser Asylsystem zu entlasten, damit wir unsere ganze Kraft auf die Menschen aus den Bürgerkriegsgebieten konzentrieren können“, forderte Wolf in der Stuttgarter Zeitung. Dies könne mit dem Ende 2013 von der EU eingeführten „Notfallmechanismus“ erreicht werden, der eine auf sechs Monate befristete Wiedereinführung der Visapflicht ermöglicht, wenn ein Mitgliedsstaat durch einen sprunghaften Anstieg der Zahl von Asylbewerbern mit geringer Anerkennungsquote in eine Notlage gerate, die er anders nicht bewältigen könne.

+++ 1. Juli Kreis Böblingen +++

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge stieg von acht im Jahr 2014 auf 19. Das zuständige Jugendamt rechnet für 2015 mit insgesamt über 50. Die Betreuungs- und Unterbringungskapazitäten sind bereits jetzt ausgeschöpft.

+++ 9. Juli Gießen +++

Das Amtsgericht Gießen verurteilt einen 27jährigen Asylbewerber aus Algerien wegen gefährlicher Körperverletzung, versuchten Raubes und Diebstahls zu 20 Monaten Haft ohne Bewährung. Vorgeworfen wurde dem Mann unter anderem, im vergangenen Herbst einen Asylbewerber aus Eritrea niedergeschlagen zu haben. Ein 34 Jahre alter Mittäter – ebenfalls ein Asylbewerber aus Algerien – wurde zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt.

+++ 7. Juli Wiesbaden +++

In Hessen werden zur Entlastung der mit über 7.000 Personen belegten Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende mehr Zelte aufgestellt, unter anderem auf einem Sportplatz in Marburg. Das Land erwartet in diesem Jahr insgesamt 40.000 Flüchtlinge.

+++ 2. Juli Düsseldorf +++

In der Stadt Düsseldorf sind die Kapazitäten zur Zeit komplett ausgeschöpft, Asylbewerber müssen kurzfristig in einer Turnhalle untergebracht werden.

+++ 8. Juli Münster +++

Die Kapazitäten zur Aufnahme von Asylbewerbern in Münster reichen laut Auskunft der Stadt noch bis September. Im Juni wurden 160 „Flüchtlinge“ zugewiesen, ein Rekordwert in diesem Jahr. Die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in Dortmund mußte zeitweise geschlossen werden. Zudem wurden 14 an Windpocken erkrankte Asylbewerber aus Bad Berleburg nach Münster verlegt.

+++ 8. Juli Mönchengladbach +++

Die Polizei in Mönchengladbach verzeichnet seit Monaten ein „immer stärkeres Auftreten einer vielköpfigen Gruppierung von jungen Schwarzafrikanern“, die in der Nähe des Hauptbahnhofs „einen schwunghaften Handel mit Marihuana“ betreibt. „Nach jetzigen Erkenntnissen kann bei der Gruppierung, die aus Jugendlichen und Heranwachsenden besteht, von einer bandenmäßigen Struktur gesprochen werden, mit Lieferanten, Verteilern und Straßenverkäufern.“ Acht Personen sitzen in Untersuchungshaft, über 100 Strafverfahren wegen des Handels mit Betäubungsmitteln seien eingeleitet worden.