© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Das Kalifat setzt auf Expansion
Islamischer Staat: Washingtons lauer Kampf gegen die Gotteskrieger ermuntert diese zu weltweitem Tatendrang
Marc Zoellner

Der Plan klang gut durchdacht und solide finanziert. Ab Juni 2015, verkündete US-Präsident Barack Obama bereits im Sommer vergangenen Jahres, werde die US-Armee mit der systematischen militärischen Ausbildung der moderaten Rebellengruppen Syriens beginnen, um „den Rückhalt für diejenigen innerhalb der syrischen Opposition aufzustocken, welche die beste Alternative zu den Terroristen des IS sowie einem brutalen Diktator darstellen“.

Über 500 Millionen US-Dollar, umgerechnet etwa 450 Millionen Euro, ließ sich Obama eigens dafür vom Kongreß der Vereinigten Staaten zusichern; ein selbst für amerikanische Maßstäbe beachtliches Kriegsbudget. Allein 5.400 Milizionäre sollten 2015 mit dieser Finanzspritze in US-Einrichtungen in Jordanien sowie der Türkei ausgebildet, in den folgenden drei Jahren rund 15.000 weitere syrische Rebellen angeworben und trainiert werden.

Hamas und IS bilden fruchtbare Symbiose 

Doch anderthalb Monate nach dem Start des ehrgeizigen Programms fällt das Resümee mehr als dürftig aus. Zwar habe man bereits rund 7.000 potentielle Rekruten überprüft, betonte Verteidigungsminister Ashton Carter vergangene Woche auf einer Pressekonferenz. Die Anzahl der Qualifizierten sei jedoch „viel geringer, als wir uns zu diesem Zeitpunkt erhofft hatten“, so der Minister. Nur 60 Syrer erfüllten bislang die Voraussetzungen für die Teilnahme am Programm der US-Armee. 

Dabei sollten gerade einheimische Bodentruppen eine der tragenden Säulen in der Strategie Barack Obamas darstellen, um die Terrororganisation Islamischer Staat, die rund ein Drittel des Irak sowie die Hälfte Syriens besetzt hält, dauerhaft zu bezwingen.

„Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß das, was wir gerade tun, dazu geeignet scheint, um den Langzeitplan des Präsidenten zu verwirklichen, den Islamischen Staat zu schwächen und letztendlich zu zerstören“, konstatierte kürzlich der Republikaner John McCain. „Alles deutet darauf hin, daß wir nicht gewinnen. Und wenn man einen Krieg nicht gewinnt, dann verliert man ihn.“

Tatsächlich stammen die wenigen Siegesmeldungen dieser Monate, abgesehen von den voranschreitenden Geländegewinnen der kurdischen Peschmerga im Nordosten Syriens, einzig vom Islamischen Staat selbst. Nicht nur aus dem Irak, wo die Extremisten trotz anhaltender Bombardierung durch die Koalition ihre Frontlinie nahe der irakischen Hauptstadt Bagdad halten und sogar ausbauen konnten. Auch im benachbarten Ausland faßt das Kalifat zunehmend Fuß, gewinnt einflußreiche Unterstützer in anderen Dschihadistenbewegungen und generiert mit präzise geplanten Terroranschlägen Schlagzeilen.

Beispielsweise in Ägypten. Im unwegsamen Hinterland der Sinai-Halbinsel stürmten rund 70 IS-Mitglieder Anfang Juli simultan mehrere Militärbasen sowie eine Polizeiwache. In den achtstündigen Kämpfen starben über 100 Menschen, rund 40 davon unter den Attentätern selbst. Unterstützt wurden diese dabei erstmalig auch von hochrangigen Hamas-Aktivisten, wie aus israelischen Sicherheitskräften wenige Tage nach dem Anschlag verlautbart wurde.

Die Kollaboration der palästinensischen Extremisten mit jenen des IS ist dabei nicht unlogisch: Beide betrachten das mit dem Westen alliierte Ägypten als ideologischen Antagonisten. Der Islamische Staat, weil Kairo federführend in der Bekämpfung der wachsenden Kalifatszelle an der libyschen Mittelmeerküste mitwirkt. Die Hamas, weil der derzeitige Machthaber in Kairo, Abd al-Fattah as-Sisi, im Juli 2013 gegen die Moslembruderschaft geputscht hatte, aus welcher die Hamas als Ableger entstanden ist. 

Der Angriff auf dem Sinai verfehlte von daher auch nicht seine Wirkung: Nur drei Tage später erklärte mit dem Dschaisch al-Islam die wohl militanteste, durch mehrere Entführungen sowie den Anschlag auf eine koptische Kirche in Alexandria zum Neujahr 2011 bekannt gewordene Palästinenserorganisation des Gazastreifens ihre Loyalität zum Islamischen Staat. Das Kalifat hat damit offiziell – und von der Hamas geduldet – in Palästina Fuß gefaßt.

Schwere Gefechte zwischen Taliban und Dschihadisten  

Bereits im März dieses Jahres unterwarf sich ebenfalls die in Nigeria wütende Terrorgruppe Boko Haram den Befehlen des IS. Daß etliche der afrikanischen Dschihadisten auch in Trainingslagern des Kalifats im Nahen Osten ausgebildet wurden, war den nigerianischen Geheimdiensten zwar vorab bekannt. Die Ausrufung des Kalifats in Westafrika durch den selbsternannten Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, kam für die Regierung in Abuja trotz alledem überraschend.

Auch Rußland bangt: Dort hat sich das 2007 gegründete Kaukasus-Emirat, welches vorrangig in Tschetschenien, in Inguschetien sowie in Norddagestan operiert, Mitte Juli der Organisation al-Baghdadis angeschlossen und im russischen Kaukasus das erste Gouvernement des Kalifats auf europäischem Boden ausgerufen. 

Rund 5.000 der Mitglieder dieses Emirats, schätzt man im Moskauer Innenministerium, kämpfen derzeit an den Fronten des IS im Irak sowie in Syrien. Die Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet dürften nicht nur hoch motiviert und bestens ausgebildet sein, befürchten Analysten im Kreml, sondern überdies auch ideologisch radikalisiert. 

Der Druck auf Moskau, aber auch auf die Vereinigten Staaten wächst rapide. Denn der Islamische Staat sucht im Krieg der Koalition gegen das Kalifat nach weiteren Fronten, um die Allianz zu schwächen und seine Streitmacht zu dezentralisieren. Doch den Amerikanern könnte bald schon eine unerwartete, Schützenhilfe zur Seite springen: die radikalislamische Taliban, die ihren Herrschaftsanspruch auf die Gebiete Afghanistans sowie den Norden Pakistans durch die Expansion des IS vital bedroht sehen.

Schon kurz nach dem Übertritt des ehemaligen Tehrik-i-Taliban-Anführers Hafez Saeed Khan im Oktober vergangenen Jahres zum IS verkündete letzterer die Installation des Kalifats Khorasan, welches die Länder Afghanistan, Pakistan und Indien umfassen würde. Einen Brandbrief des ehemaligen Luftfahrtministers in der Regierung der Taliban und jetzigen inoffiziellen Gouverneurs von Kandahar, Akhtar Mohammad Mansour, der al-Bagdhadi darin bat, die Dschihadistenbewegung am Hindukusch nicht zu spalten, sondern unter der Kontrolle der Taliban zu belassen, ließ der Kalif unbeantwortet. Seitdem befinden sich die Taliban selbst im Krieg gegen den Islamischen Staat. Schwere Gefechte zwischen beiden Gruppierungen forderten bislang Dutzende Tote auf beiden Seiten. 

Die Taliban werden dabei auch von der Regierung in Kabul unterstützt, welche in den Mudschaheddin das kleinere von beiden Übeln sieht und mit diesen seit dem 17. Juli erneute Friedensverhandlungen führt. Die Taliban wiederum verhalfen den USA zu einem ganz großen Coup gegen das Kalifat: Vergangene Woche spürten sie das Versteck Hafez Khans auf, so daß dieser von einer US-Drohne eliminiert wurde.

Foto: IS-Anhänger posieren in Srinagar im indischen Kaschmir-Gebiet: Das Kalifat Khorasan umfaßt große Teile Pakistans, Afghanistans und Indiens