© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

„Wer sind Sie?“
Übermütige Farce: Álvaro Brechner erzählt in „Señor Kaplan“ von nach Lateinamerika emigrierten Juden und geflohenen Nazis
Wolfgang Paul

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Lateinamerika ein beliebtes Zufluchtsland für diejenigen Nationalsozialisten, die gute Gründe hatten, das besetzte Deutschland schleunigst zu verlassen. Das ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, daß Jahre zuvor verfolgte deutsche Juden nach Lateinamerika emigrierten. In einigen Fällen lebten einstige Täter und Opfer Tür an Tür, und Bücher und Filme erzählen davon, wie deren Kinder und Kindeskinder, selbst älter geworden, von der Vergangenheit ihrer Familie erfahren und sie zu verarbeiten suchen.

Diese ernsten Werke ergänzt der in Montevideo geborene Álvaro Brechner jetzt mit „Señor Kaplan“, einer Komödie, die das Thema Juden und Nazis in einem ungewohnten Ton behandelt und in Uruguay zu einem großen Publikums-erfolg geworden ist. Das Erstaunliche ist, wie Brechner, selbst ein Jude, dessen Großvater 1938 aus Polen emigriert ist, aus dem stark überfrachteten Thema eine übermütige Farce macht, in der es im Kern um Vorurteile und Verdächtigungen, um den Gegensatz von Anschein und Realität geht.

Jacobo Kaplan, der dem Film den Titel gegeben hat, ist mit seinen 76 Jahren ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde. Als er und seine Frau bei einem großen Bankett nicht auf der Gästeliste stehen und mit Ersatzstühlen an einem Tisch untergebracht werden, kommen ihm Zweifel über seinen Platz in der Gemeinschaft. Als er nach einem Sehtest beim Augenarzt seinen Führerschein los wird, packt ihn die Torschlußpanik. Was wird man von ihm erzählen, wenn er gestorben ist? Was wird von seinem Leben bleiben?

Die Chance, zu Nachruhm zu kommen, bietet ein deutscher Emigrant, der am Strand seine Runden dreht, ein alter Mann, der noch das Dritte Reich erlebt haben dürfte. Zudem kommen Meldungen im Fernsehen über einen in Uruguay unter falschem Namen lebenden NS-Mann, der gesucht wird. Da der Unbekannte vom Strand nicht zur jüdischen Gemeinde  gehört, muß er der gesuchte Nazi sein. Wie einst Don Quijote und Sancho Panza brechen Jacobo Kaplan und sein Fahrer, der befreundete Wilson Contreras, auf, um den Verdacht zu erhärten. Derweil macht sich Familie Kaplan Sorgen, was denn der Patriarch so treibt, wenn er stunden- und tagelang außer Haus ist.

Der Regisseur spielt lustvoll mit Klischees

Immer mehr verdichten sich die Verdachtsmomente zur Gewißheit. Julius Reich, so der Name des Deutschen, betreibt das kleine Café Estrella am Strand, und seine Tochter trägt denselben Namen. Estrella hieß aber eben auch das Schiff, das viele Nazis nach Lateinamerika gebracht hat. Eine Spionageaktion bei jener Tochter führt die Nazijäger auf die Beerdigung eines deutschen Geschäftspartners von Julius Reich, wo sie auf eine suspekte Ansammlung deutscher Einwanderer treffen, von denen sie als Eindringlinge erkannt und verjagt werden.

Jetzt ist klar: Wie Kaplans großes Vorbild Simon Wiesenthal einst Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst aus Argentinien hat entführen lassen, so soll Julius Reich jetzt nach Israel entführt werden. Da aber der israelische Geheimdienst nicht zur Verfügung steht, müssen Kaplan und sein tolpatschiger, dem Alkohol zugeneigter Freund die Sache selbst in die Hand nehmen. Diese Aktion gerät dem Film nicht besonders realistisch.

Von Anfang an spielt Autor und Regisseur Brechner lustvoll mit Klischees. Hervorragende Schauspieler unterstützen ihn dabei. Der Chilene Héctor Noguera, der den Jacobo Kaplan großartig in der Bandbreite von dement und verschroben bis hyperaktiv spielt, braucht sich um seinen eigenen Nachruhm keine Sorgen zu machen. Er ist ein bekannter Schauspieler und hat sich als Theaterdirektor, und -regisseur sowie als Professor Verdienste erworben. Sein Kompagnon Wilson, eine unglückliche Figur, die von Frau und Kind verlassen worden ist, wird von Néstor Guzzini, einem der populärsten Schauspieler Uruguays, als gutmütiger Kumpel gegeben, der sich vom Jagdfieber seines Freundes anstecken läßt.

Erfreulich, daß Rolf Becker nach vielen Fernsehauftritten (unter anderem in der Krankenhausserie „In aller Freundschaft“) wieder einmal in einem sehenswerten Kinofilm mitwirkt. Er spielt den geheimnisvollen Julius Reich und muß lange ohne Dialog wirken. In einer der besten Szenen setzt er sich in einem Autobus bedrohlich hinter Kaplan, beugt sich nach langem Schweigen vor und fragt Kaplan leise: „Wer sind Sie?“ Wer Julius Reich in Wahrheit ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.