© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/15 / 17. Juli 2015

Der Flaneur
Nächstes Jahr wieder
Bernd Rademacher

Der Hund schlägt an, weil jemand etwas durch den Briefschlitz schiebt. Ein Zettel: „Morgen kommt der Scherenschleifer“. Scherenschleifer? Die gibt’s noch? Anno 2015, in der Großstadt? Ich dachte, diese ambulanten Gewerbe wären längst ausgestorben, wie Kesselflicker oder Lumpensammler. Ich bin gespannt auf morgen.

Um halb zehn klingelt es. Da steht ein unrasierter Kerl mit dilettantischen Tätowierungen und Reval-Zigarette im Mund. Mein erster Eindruck: Zwanzig Jahre Knast. Er stellt sich als der Scherenschleifer vor und fragt: „Haste was?“ Ich frage, wo denn seine Schleifmaschinen sind. „Na hier“, sagt er und deutet auf einen schmutzigen Lieferwagen.

Er öffnet die Heck-klappe des Wagens und zieht eine alte Decke von seinen Geräten.

Ich überlege. „Warte“, sage ich und hole eine uralte Heckenschere aus dem Keller und ein Küchenmesser. Es hat eine Scharte in der Klinge, seit es mal auf die Küchenfliesen gefallen ist. Er mustert die Stücke. Wir einigen uns auf 18 Euro für beide Teile. Ich hoffe, er ruiniert sie nicht vollends.

Er öffnet die Heckklappe des Wagens und zieht eine alte Decke von seinen Geräten. Ein feiner Schleifstein, eine Scheibe aus Lamellen und eine Polierscheibe. „Du mußt dir immer den Gewerbeschein zeigen lassen, die Zigeuner schleifen dir sonst alles kaputt“, meint er. Dann geht er ans Werk. Dabei schimpft er: „Die fragen die Omas nach Silberbesteck und klauen das. Und unsereins kriegt ’n schlechten Ruf!“ Dann erzählt er von seinem Vater, der auch schon Scherenschleifer war, aber nicht mehr so kann – die Augen. „Und immer den Gewerbeschein zeigen lassen!“

Ich schaue ihm interessiert über die Schulter. Sieht nicht unprofessionell aus. Nach etwa zehn Minuten ist er fertig. „Nächstes Jahr komm’ ich wieder.“ Ich geb’ ihm zwanzig und sage: „Stimmt so.“ Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er mich behumst hat. Die Probe: Beide Teile schneiden tadellos. Das Küchenmesser gleitet scharf in die Haut einer Tomate.

Moment mal! Hab’ ich mir überhaupt seinen Gewerbeschein zeigen lassen?