© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

„Europa hat Tsipras nicht verstanden“
Was steckt tatsächlich hinter der Griechen-Krise? Der Ökonom Spiridon Paraskewopoulos warnt vor einer fatalen Unterschätzung Syrizas
Moritz Schwarz

Herr Professor Paraskewopoulos, haben wir die Regierung Tsipras unterschätzt?

Paraskewopoulos: Leider ja, denn was die Europäer nicht verstanden haben, ist, daß die Regierung Tsipras sich aus Personen mit kommunistischer Gesinnung zusammensetzt.

Was bedeutet?

Paraskewopoulos: Dies bedeutet, daß sie – aus ihrer Ideologie heraus – nie vorhatte, sich an die Regeln der EU und Eurozone zu halten. 

Warum?

Paraskewopoulos: Die Syriza-Politiker sagen zwar, daß sie Europa wollen – aber ein anderes Europa, welches auch immer. Sie betrachten die EU als eine von Deutschland beherrschte undemokratische, unsolidarische Institution, um die Völker Europas der deutschen Hegemonie zu unterwerfen. Mit der Einführung des Euro, so Syriza, seien die Deutschen diesem Ziel ziemlich nahe gekommen. 

Sie meinen, in Wahrheit strebt Tsipras den Grexit an?

Paraskewopoulos: Ich meine ja. Umwelt- und Entwicklungsminister Panagiotis Lafazanis etwa, ein bekennender Kommunist, fordert dies ganz offen. Er sagt, Griechenland habe mit eigener Währung eine bessere politische und ökonomische Alternative. 

Die Griechenland-Krise, in Wahrheit eine kommunistische Verschwörung? Das klingt nach einer Räuberpistole.

Paraskewopoulos: Weil vielen in Deutschland eben nicht klar ist, daß, wie gesagt, das Syriza-Führungspersonal vor allem aus Marxisten und fanatischen Kommunisten besteht, die für Griechenland eine Abkehr von der parlamentarischen Demokratie, vom Euro, der EU und der sozialen Marktwirtschaft wollen. Tsipras weiß aber, daß das griechische Volk dem niemals zustimmen wird. Daher steuerte er von Beginn an mit übertriebenen Forderungen den Weg der Konfrontation mit den Euro-Ländern, um dem Volk die – nach seiner Ansicht – Boshaftigkeit und Unmenschlichkeit der Europäer vorzuführen und es so in seine ideologischen Bahnen zu lenken.

Allerdings dürfte Tsipras doch klar gewesen sein, daß er sich gegen die vereinte Eurozone nicht durchsetzen können wird. Wie plausibel ist also Ihre Theorie? 

Paraskewopoulos: Sie haben keine Ahnung, wie diese Leute denken. Tsipras, der kleine Napoleon, hat schon zu Beginn verkündet, er sei angetreten, nicht nur um Griechenland, sondern „um ganz Europa zu verändern“. Über seine Verhandlungen mit der Euro-Gruppe sprach er von „Krieg“. Und er ging ernsthaft davon aus, ohne Griechenland gehe die Eurozone kaputt, so daß man Athen auf keinen Fall fallenlassen würde. Da aber hat er sich verkalkuliert und mußte klein beigeben. Aber glauben Sie nicht, daß er wegen dieses Rückschlags seine Strategie aufgibt. Im Gegenteil, kaum zurück von den Verhandlungen mit den Euro-Ländern, hatte er nichts Besseres zu tun, als den griechischen Medien mitzuteilen, er habe in Brüssel den Auflagen nur zugestimmt, weil er „erpreßt“ worden sei. Im Klartext: Er denkt nicht daran, sich an die Vereinbarungen zu halten. 

Das heißt also, die Krise geht weiter?

Paraskewopoulos: Mit Syriza an der Regierung auf jeden Fall, davon bin ich überzeugt. Ich glaube, Tsipras wird für September Neuwahlen anstreben, die er dank seiner Popularität, die er tatsächlich genießt, gewinnen will. Diese Leute sind Ideologen und lassen nicht ab von ihrem Ziel.   

Oder Ihre Analyse ist eine antikommunistische Verschwörungstheorie. 

Paraskewopoulos: Was heißt Verschwörungstheorie? Diese Leute sagen das doch alles ganz offen! Da müssen die Europäer nur mal richtig hinhören. Syriza will keine Beruhigung der Lage, sondern in kommunistischer Manier deren Zuspitzung. Was Syriza-Politiker den Europäern – insbesondere den Deutschen – im griechischen Parlament und den Medien vorwerfen, ist völlig unter der Gürtellinie. Als Grieche muß ich mich dafür schämen. Die Europäer sind demnach „Faschisten“, „Erpresser“ „Verbrecher“ und „Terroristen“, die in Griechenland einen „sozialen Holocaust“ anrichten. Die EU wird von ihnen buchstäblich als ein das Blut der Völker saufendes Monstrum dargestellt und Deutschland als Macht, die zum dritten Mal Europa erobern will – diesmal nicht mit seinen Soldaten, sondern mit seiner Ökonomie. Wie soll bei einer solchen Rhetorik ein gemeinsames Europa eine Zukunft haben? Welchen Eindruck gewinnt das griechische Volk durch solche Reden? Den, daß man mit so unmenschlichen Typen wie den Europäern, mit diesen „dummen Franken“, wie sie von den Griechen auch gerne genannt werden, beim besten Willen nicht zusammenarbeiten kann. So stachelt Syriza die Griechen gegen die Europäer auf!

Allerdings pflichten deutsche Politiker dem bei: Die Grünen kritisieren etwa, Deutschland trete „herrisch“ gegenüber Griechenland auf und habe Athen „gedemütigt“. 

Paraskewopoulos: Immer sind es Linke, von denen solche Kritik kommt. Immer wieder erzählen sie das Märchen von den unschuldigen Griechen und den bösen europäischen Kapitalisten. Das ist Unsinn.

Inwiefern? 

Paraskewopoulos: Nehmen Sie etwa den Vorwurf, mit den Rettungsgeldern für Griechenland haben die Europäer lediglich ihre Banken gerettet und nicht dem griechischen Volk geholfen. Das ist in der Sache zwar die halbe Wahrheit – aber wessen Schuld ist das? Wer hat denn die Milliarden Euro-Kredite einst aufgenommen, von denen – gemäß Kreditvertrag – klar war, daß sie eines Tages zurückgezahlt werden müssen? Die griechischen Politiker. Und wer hat diese Politiker gewählt? Das griechische Volk. Bedauerlicherweise ignorieren auch die deutschen Linken solche Zusammenhänge und agitieren statt dessen gegen die Euro-Länder, ja sogar gegen ihr eigenes Land. Auch die deutschen Linken, wenn man etwa Frau Wagenknecht zuhört, wollen ein anderes Europa. So unterstützen sie Syriza, wo es nur geht und bestätigen die Griechen in ihrer unheilvollen Auffassung, sie seien die Opfer der Deutschen.

Und das sind sie nicht?

Paraskewopoulos: Ich bitte Sie, wenn jemand über Jahrzehnte mit fremden Einkommen ein Leben in Wohlstand führt, ist er dann ein Opfer? Von 1981 – dem Jahr des Beitritts Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft – bis zum Ausbruch der Krise 2010 hat Athen fast 180 Milliarden Euro Subventionen von den Europäern erhalten. Allerdings bekamen sie das Geld, um Griechenland zu modernisieren. Doch was haben meine Griechen statt dessen getan? Sie haben in der Tat von dem Geld gelebt. Zum Beispiel sind in Griechenland von einhundert Erwerbstätigen 25 im öffentlichen Dienst beschäftigt. Zum Vergleich: In Deutschland sind es elf. Und das, obwohl in Deutschland durch seine föderale Struktur – die Griechenland nicht hat – der Sektor des öffentlichen Dienstes an sich viel größer ist. 

Allerdings kritisieren nicht nur Griechen und Linke Deutschland. Auch zum Beispiel Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn wirft Deutschland Dominanz vor 

Paraskewopoulos: Im Gegenteil, wenn man Deutschland und den anderen Euro-Ländern etwas vorwerfen muß, dann, daß sie bisher zu nachgiebig gegenüber Griechenland waren und nicht darauf gedrungen haben, daß die Griechen die vereinbarten Reformen auch umsetzen und die Lasten der fiskalpolitischen Maßnahmen gerecht verteilt werden.

Sie fordern sogar mehr Härte?

Paraskewopoulos: Wenn die Griechen keine Konsequenz zeigen, dann hoffe ich, daß die Euro-Staaten das tun!  

Sie sind selbst Grieche – ist das nicht illoyal gegenüber Ihrem Land? 

Paraskewopoulos: Ganz und gar nicht, ich sage das, weil mir mein Land so sehr am Herzen liegt. Die Umsetzung der Reformen bedeutet keine Strafe für die Griechen, sondern die Realisierung von Wachstumsmöglichkeiten. Noch nie in der Geschichte hat es das gegeben, daß einem Land von seinen Nachbarn so viel Geld gegeben wurde. Und noch nie in der Geschichte hat es das gegeben, daß die Geber dafür so übel beschimpft worden sind. Ich will Ihnen etwas verraten: Meine Griechen leiden leider unter dem Adam-und-Eva-Syndrom. Sie wissen, die beiden aßen vom Baum der Erkenntnis, und als Gott das bemerkte, fragte er Adam: „Warum hast du das getan?“ Adam aber sagte: „Ich bin nicht schuld, Eva ist schuld!“ Und die sagte: „Ich bin nicht schuld, die Schlange ist schuld!“ Das sind meine Griechen! Und das muß sich endlich ändern. Und nur wenn sich etwas ändert, kann es Griechenland wieder besser gehen. Und damit sich etwas ändert, müssen notfalls die Euro-Länder hart gegen Athen vorgehen, wenn Athen es nicht selbst schafft. Deshalb bin ich zum Beispiel auch Wolfgang Schäuble sehr, sehr dankbar für sein Beharren auf der Umsetzung des Vereinbarten!

Der Mann, der vielen in Europa nun als Spalter und Brandstifter gilt?

Paraskewopoulos: Schäuble ist für mich der wahre Europäer! Denn mit seinem Vorschlag – Grexit auf fünf Jahre – verfolgte er das Ziel, das Interesse Europas zu wahren und den Euro zu retten. Es stimmt, er stellte das Interesse Europas über das Griechenlands. Aber ich behaupte, er würde es ohne zu zögern ebenso über das Deutschlands stellen. Für ihn gilt: Erst Europa, dann Deutschland! 

Allerdings steht er nun am Pranger.

Paraskewopoulos: Weil sehr viele, die über das Thema schreiben, quasi links eingestellt sind. So entsteht der Eindruck, als würden alle Schäuble kritisieren – tatsächlich aber ist es nur die Mehrheit der schreibenden Zunft. Die große Mehrheit des deutschen Volkes dagegen – angeblich fast achtzig Prozent – steht hinter Schäuble. Wer steht dagegen hinter den Linken, Teilen der SPD, den Grünen und seinen journalistischen Kritikern? Höchstens also die übrigen zwanzig Prozent. Darüber sollten diese Leute einmal nachdenken.

Aber kann Griechenland den Austeritätskurs überhaupt durchhalten?

Paraskewopoulos: Die Austeritätspolitik ist richtig, sie wurde, wie gesagt, nur falsch umgesetzt – nämlich ungerecht. Die griechischen Politiker haben stets die eigene Klientel, die sogenannten Oligarchen, geschützt und die Lasten anderen aufgebürdet. Und das war nicht nur ungerecht, sondern hat auch dazu geführt, daß die korrupten und verkrusteten Strukturen trotz des Sparkurses erhalten geblieben sind. Deshalb hat Griechenland nicht die Ergebnisse erzielt, die mit dieser Politik auch möglich gewesen wären, wie die Beispiele Spanien, Portugal oder Irland zeigen. 

Wolfgang Bosbach fürchtet, es sei lediglich nur wieder Zeit gekauft worden.  

Paraskewopoulos: Ich fürchte, er hat recht. Der Grieche in mir hofft zwar, daß Athen diese möglicherweise letzte Chance nutzt. Als Fachmann aber glaube ich, daß sich das gerade überstandene Drama schon in wenigen Monaten wiederholen wird. 

Die Bundeskanzlerin glaubt, daß diesmal die Reformen greifen. 

Paraskewopoulos: Nicht mit dieser Regierung. Nur wenn es bei Neuwahlen eine neue, ehrliche, anders denkende und handelnde Regierung gibt. 

Wer sollte die stellen? Die Christdemokraten? Die Sozialisten? Die haben die Reformen früher doch ebenfalls verschleppt. 

Paraskewopoulos: Ja, es ist entmutigend. Allerdings gibt es eine neue, proeuropäische Kraft: Potami, die den Anspruch hat, eine „Bewegung von den Bürgern, für die Bürger“ zu sein.

Die bei den Wahlen im Januar allerdings nur sechs Prozent erzielt hat. 

Paraskewopoulos: Das stimmt leider. Die griechischen Wähler müßten sich zu einer wirklichen Wende entschließen. 

Wie wahrscheinlich ist das?

Paraskewopoulos: Nicht allzusehr, und dennoch hoffe ich es für mein Land.

Haben die Euro-Rebellen im Bundestag also recht, die gegen Verhandlungen über ein drittes Rettungspaket gestimmt haben?

Paraskewopoulos: Als Grieche bin ich froh darüber, daß sie sich nicht durchsetzen konnten. Aber aus deutscher Sicht und als Fachmann muß ich sagen: ja.

Ihre Haltung ist ungewöhnlich, zumindest sieht man in deutschen Talkrunden sonst nur Griechen, die die Athener Politik mehr oder weniger rechtfertigen. Vertreten Sie eine solche Minderheitenposition? 

Paraskewopoulos: Keineswegs, wie etwa das Resultat des Referendums zeigt, bei dem immerhin fast vierzig Prozent mit Ja gestimmt haben. Und mich ärgert ebenfalls, was Sie da ansprechen! Zwar haben mich der Deutschlandfunk oder der Fernsehsender Phoenix schon zum Gespräch eingeladen, aber bei Will, Jauch oder Illner sieht man in der Tat immer nur Griechen, die beim deutschen Zuschauer den Eindruck erwecken, alle meine Landsleute wären in etwa einer Meinung: nämlich, daß an der griechischen Tragödie die Europäer und insbesondere die Deutschen schuld sind. Wollen die deutschen Medien uns Griechen lächerlich machen? Oder sind die deutschen Fernsehmacher tatsächlich so links, daß sie eine andere Position, die auch sehr viele andere Griechen vertreten, nicht hören wollen? 





Prof. Dr. Spiridon Paraskewopoulos, der Emeritus lehrte zunächst an der Universität Köln, dann in Leipzig, wo er Direktor des Instituts für theoretische Volkswirtschaftslehre war. Geboren wurde er 1942 nahe Olympia, 1962 kam er nach Deutschland.  

Foto: Antideutsche Proteste in Athen: „Syriza stellt die Europäische Union als blutsaufendes Monstrum dar und Deutschland als eine Macht, die Europa zum dritten Mal erobern will“

 

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