© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Ankara vollzieht die Kehrtwende
Türkei: Nach dem Terroranschlag in der türkischen Stadt Suruc verschärfen sich die Spannungen zwischen Ankara und dem Islamischen Staat
Marc Zöllner

Die Türkei steht unter Schock. Der Terroranschlag auf eine sozialistische Jugendgruppe in der südtürkischen Stadt Suruc nahe der syrischen Grenze mit mehr als 31 Toten sorgt landesweit für Empörung. Über die Hintermänner des Anschlags läßt die Regierung in Ankara keine Zweifel: Es soll der „Islamische Staat“ gewesen sein. Die Türkei hatte den Kurs gegen die Terrorgruppe in den vergangenen Wochen deutlich verschärft.

Ohne Vorwarnung stürmten zuletzt im Morgengrauen des 10. Juli  Hunderte schwer bewaffnete türkische Spezialeinsatzkräfte rund zwanzig Gebäude und Gelände in der Türkei. In der konzertierten Aktion, die sowohl die Millionenmetropole Istanbul als auch die Städte Mersin und Sanliurfa umfaßte, konnten nicht nur Handfeuerwaffen, Kriegsgerät und militärische Uniformen des Kalifats von den Beamten sichergestellt werden. Auch 21 zumeist türkische Staatsbürger wurden in Handschellen abgeführt.

Neue Staaten in Syrien wird Ankara nicht hinnehmen

Viele Kritiker der türkischen Regierung hatte dieses harte Vorgehen überrascht. Immer wieder wurde der konservativ-islamischen AKP, welche bis zur Parlamentswahl vom Juni mit absoluter Mehrheit regierte (JF 25/15), sowie dem aus ihren Reihen stammenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorgeworfen, nicht nur mit dem IS zu sympathisieren, sondern diesen auch aktiv zu unterstützen.

Immerhin besitzen der Islamische Staat und die türkischen Konservativen gleich zwei gemeinsame Gegner. Seit seinem Zerwürfnis von 2012 mit dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad gilt Erdogan als wohl prominentester Rädelsführer der Region, der für einen Regimewechsel in Damaskus kämpft. Überdies kommen dem türkischen Präsidenten die anhaltenden Konflikte zwischen den Milizen des Kalifats und jenen der kurdischen YPG, dem syrischen Ableger der in der Türkei operierenden und für einen unabhängigen Kurdenstaat kämpfenden PKK, entgegen. Mit seiner Aufreibung an den Kurdengebieten bindet der IS Kräfte, die sich sonst gegen die Türkei selbst richten könnten. „Wir werden niemals die Bildung eines Staates in Syriens Norden und unserem Süden erlauben“, warnte Erdogan die Kurden diesbezüglich noch vor wenigen Wochen. 

Daß Ankara auch Islamisten im Kampf gegen die Machthaber in Damaskus finanziert und ausrüstet, ist kein Geheimnis. Erst im April traf sich unter anderem Zahran Alloush, Befehlshaber der rund 20.000 Milizionäre umfassenden salafistischen Dschaisch al-Islam, der „Armee des Islam“, in Istanbul mit Vertretern der türkischen Regierung, um die Eckpunkte der Kooperation beider Parteien im syrischen Bürgerkrieg auszuarbeiten. Mitte Juli warf zuletzt auch China der Türkei vor, der ostasiatischen ethnischen Minderheit der Uiguren mit von türkischen Botschaften ausgestellten falschen Pässen die Einreise nach Syrien über die Türkei zu ermöglichen.

Das ambivalente Verhältnis der Türkei zum Islamischen Staat scheint mit dem Terroranschlag und den Razzien jedoch sein vorläufiges Ende gefunden zu haben. Nicht grundlos gerieten gerade islamistische Einrichtungen in Sanliurfa ins Visier der Ermittler; liegt doch die Stadt gerade einmal 80 Kilometer von Kobane entfernt im Mittelpunkt des Spinnennetzes der radikalislamistischen Dschihadistenschleuser des IS. Auf die Verhaftung von 21 ihrer Sympathisanten folgte auch umgehend die Warnung des Kalifats. „Mit dem Kampf gegen den IS bereitet die Türkei ihr eigenes Ende vor“, verlautete es auf dem IS-eigenen Nachrichtenportal Darulhilafe. „Das Land wird einen hohen Preis für seine Aktionen bezahlen.“ Deutlicher hätte der IS seinen Anschlag nicht ankündigen können.

Spielchen mit IS rücken EU-Beitritt in weite Ferne

Doch zumindest in der Türkei konnte niemand mehr diese Warnung lesen. Die zu Al-Hayat, dem Propagandanetzwerk des Kalifats, gehörende Seite wurde noch am selben Tag vom Innenministerium blockiert. Nur zwei Tage später zerschlugen Sicherheitskräfte eine weitere Zelle der Terrorgruppe in der Grenzmetropole Gaziantep. Über 45 Rekrutierer und Anhänger des IS wurden dabei festgesetzt.

Der Paradigmenwechsel Ankaras kommt nicht von ungefähr. Nach der verlorenen Parlamentswahl verbleibt für Erdogans AKP mit der sozialdemokratisch-laizistischen CHP lediglich eine Partei als authentischer Koalitionspartner. Doch diese sieht ihr außenpolitisches Heil nicht in den Nahost-Abenteuern des Präsidenten, sondern vielmehr in einer erneuten Anbindung der Türkei an Europa. Neben der ungelösten Zypern-frage, welche letzterem Erbitten bislang im Weg stand, kann sich Ankara als europäischer Partner auch keine Experimente im Umgang mit dem IS mehr leisten. Zum Anschlag in Suruc fand Erdogan deswegen deutliche Worte: „Im Namen meines Volkes verfluche und verurteile ich die Täter dieser Unmenschlichkeit.“

Foto: Festnahme eines mutmaßlichen IS-Kämpfers in Istanbul: Erdogan verflucht die Täter