© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31_32/15 / 24. Juli 2015

Im Auge des europäischen Taifuns
Deutsche Tragödie: Zum 90. Geburtstag des aus Siebenbürgen stammenden Schriftstellers Hans Bergel
Thorsten Hinz

Ein Familienfoto von 1929 zeigt den vierjährigen Hans Bergel inmitten einer großen Verwandtenschar. Aufgenommen wurde es im Garten des Elternhauses im siebenbürgischen Rosenau bei Kronstadt. Die Szene vermittelt Harmonie, Kultiviertheit, Geborgenheit. Nichts deutet darauf hin, daß das Ende der deutschen Lebenswelt in Südosteuropa kurz bevorsteht und der Kleine zu seinem Chronisten berufen ist. 

Die Katastrophe der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben – der „Rumäniendeutschen“ – ist eng verschlungen mit den zwei totalitären Verhängnissen des 20. Jahrhunderts. Hans Bergel, der am 26. Juli seinen 90. Geburtstag begeht, hat sie durchlebt und durchlitten. Der Deportation in ein sowjetisches Arbeitslager 1945 konnte er sich durch Flucht entziehen, doch mußte er mehrere Jahre im Gefängnis verbringen. 1959 gehörte er zu den fünf deutschen Autoren, die im Kronstädter Schriftstellerprozeß – eine vom Geheimdienst gesteuerte Justizfarce – abgeurteilt wurden.

Durch Vermittlung unter anderem von Günter Grass konnte er 1968 in die Bundesrepublik ausreisen. Er fand sich in einem Land wieder, das ihm fremd war und im Veitstanz der Selbstzerstörung zuckte. Das Gefühl der Fremdheit hat seither noch zugenommen. Er sei es leid, sich über dieses Thema noch den Kopf zu zerbrechen, äußerte er kürzlich in der Zeitschrift Sezession, es sei denn, er entschlösse sich, ein Buch darüber zu schreiben. „Doch cui bono? frage ich mich in einer Gesellschaft, die aus ihrer Kulturdefinition die Grundwerte Familie und Kind strich und sich selber damit ad acta legt. Stimmt es nicht nachdenklich, daß ich mich in Israel im Kreis deutschsprechender und trotz allem deutscher Kultur anhängender hoch gebildeter Juden offener, freier über unsere Befindlichkeiten äußern kann als unter Deutschen? (...) Nirgendwo in Deutschland erfuhr ich seit meiner Auswanderung ’68 die Hochachtung vor deutscher Kulturleistung, zu der diese gescheiten Juden bereit sind (...), die mich wiederholte Male mit schierem Entsetzen nach den ‘Anomalien deutscher Intellektualität’ fragten.“ Die bisher einzige Monographie über ihn trägt den treffenden Titel: „Der Mann ohne Vaterland“.

Im 1977 veröffentlichten Roman „Der Tanz in Ketten“ hat er über den rumänischen Staatsterror der fünfziger und sechziger Jahre berichtet, ohne die verdiente Resonanz zu finden. Außenpolitisch standen die Zeichen auf Entspannung, und dem Kulturbetrieb galt das Thema als suspekt, antikommunistisch, reaktionär.

Deutsche Geschichte von der Peripherie her erzählt

Bergels wichtigste Romane sind „Wenn die Adler kommen“ (1996) und „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006), die zu einer geplanten, bisher unvollendeten Trilogie gehören. Sie erzählen die Geschichte der Familien Hardt und Hennerth, wobei die Lebensdaten des jungen Peter Hennerth die des Autors sind. Es geht nicht nur um siebenbürgische, sondern um die ganze deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie wird von der Peripherie her erzählt, was hier den Blick ungemein schärft. „Die Wiederkehr der Wölfe“ übertrifft zumindest in der Konzeption fast alles, was in der bundesdeutschen Belletristik über den Nationalsozialismus und den Krieg  geschrieben wurde. Bergel stellt nämlich die deutsche Tragödie konsequent in einen internationalen Kontext. Zu den Schauplätzen gehören neben Siebenbürgen und Berlin auch Paris, Moskau und London.

Die deutsche Minderheit in Rumänien fühlt sich nach dem Ersten Weltkrieg bedrängt und bedroht, was es den Nationalsozialisten erleichtert, hier Fuß zu fassen. Mit der fatalen Folge, daß das Zusammenleben in der Vielvölkerregion nun erst recht unterminiert wird. Der Gruß „Servus“, der Deutsche, Slawen, Ungarn und Rumänen miteinander verbindet, weicht dem exklusiven und drohenden „Heil Hitler“. Reichsjugendredner reisen an, NS-Volksgruppenführer führen das große Wort, Jugendliche werden für die SS geworben. 

Auch zwischen anderen Nationalitäten herrschen Spannungen. Der Friedensschluß von Trianon hat auch viele Ungarn unter rumänische Herrschaft gestellt. Durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch vom August 1940 erhält Ungarn ein großes, keilförmiges Segment Nordsiebenbürgens zurück. Zu diesem Zeitpunkt unternimmt der fünfzehnjährige Peter mit Freunden eine Radtour durchs Land und wird Zeuge, wie ungarische Bauern einen korrupten rumänischen Polizisten, der sie jahrelang drangsaliert hat, in viehischer Weise massakrieren. Im Sommer 1941 führen rumänische Faschisten mit Billigung der Regierung unaussprechlich grausame Pogrome gegen Juden durch. Hennerth erhält einen Schulverweis, weil er gegen den Vortrag eines Reichsredners über die Höher- und Minderwertigkeit von Völkern aufbegehrt. Sein älterer Bruder, ein Komponist, bekommt Schwierigkeiten, weil seine Musik dem NS-Geist widerspricht. Sein Oratorium „Apokalypse“ mit Texten aus der Offenbarung des Johannes weckt unmittelbare Assoziationen zu den Werken des Tonsetzers Adrian Leverkühn aus Thomas Manns „Faustus“-Roman.

Doch das deutsche ist auch ein internationales Verhängnis. Deutschland bildet nur das Auge des europäischen Taifuns. Erwähnt werden die Sympathien französischer Intellektueller für den Nationalsozialismus. Auf Deutschland richten sich auch die Begehrlichkeiten der Bolschewisten in der Erkenntnis, daß die Beherrschung Rußlands und Deutschlands die Herrschaft über Europa und schließlich über die Welt bedeutet. Hypothetisch wird im Gespräch erörtert, daß Hitler die einzige wirksame Antwort auf den Bolschewismus und für Deutschland möglicherweise die letzte Chance darstellt. Offenbar hat Bergel sich intensiv mit den Arbeiten Ernst Noltes auseinandergesetzt. Als Romanautor bleibt er bei den Thesen des Geschichtsdenkers freilich nicht stehen, sondern betont die Freiheit des Menschen zur ethischen Entscheidung.

Zwangsverschleppung nach Rußland 

Diese Passagen – es handelt sich zumeist um Dialoge – gehören wegen ihrer Abstraktheit zu den künstlerisch schwächeren. Außerdem sind Bergel chronologische Fehler unterlaufen, etwa, wenn er den Beginn der Deportationen aus dem französischen Sammellager Drancy und die Kenntnis über Auschwitz auf den Sommer 1940 datiert und damit um zwei Jahre vorverlegt.

Die siebenbürgischen Volksgruppenführer setzen sich 1944 mit den deutschen Truppen ab, genau wissend, daß man die Zurückbleibenden nun doppelt haftbar machen wird. Die rumänische Regierung stimmt 1944 der Zwangsverschleppung aller arbeitsfähigen Deutschen nach Rußland zu in der Hoffnung, sich auf diese Weise schadlos halten zu können. Zu den beeindruckenden Schlußbildern gehört die Vernichtung der jahrhundertealten, in Brand gesetzten Bibliothek des Gymnasiums von Kronstadt. Drucke aus dem Jahr 1490 liefern den russischen Soldaten das Papier zum Zigarettendrehen ...

Man möchte dringend wissen, wie es den Familien Hardt und Hennerth in den folgenden Jahren ergeht. Ist der Wunsch an einen 90jährigen vermessen, er möge noch Kraft und Zeit finden, die Trilogie in irgendeiner Weise zu vollenden?

Hans Bergel: Wenn die Adler kommen. Roman. Edition Noack & Block, Berlin 2015, gebunden, 366 Seiten, 22,80 Euro

Hans Bergel: Die Wiederkehr der Wölfe. Roman. Edition Noack & Block, Berlin 2015, gebunden, 780 Seiten, 28 Euro