© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Keine Lust zu wählen, was tun?
Wahlbeteiligung: Online-Voting oder Volksabstimmungen sind keine Garanten gegen Wahlmüdigkeit – die demokratieferne EU schon gar nicht
Christian Schreiber

Ist die repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell? Die Mitgliederzahlen der Parteien sinken seit Jahren kontinuierlich, die Wahlbeteiligung erreicht bei Landtags- und Europawahlen neue Tiefststände. Politiker, Stiftungen und diverse Bildungseinrichtungen beschäftigen sich seit Jahren mit der Frage, wie „demokratieferne“ Teile der Bevölkerung wieder zur Partizipation motiviert werden können. Wahlalter auf 16 senken, Wahlurnen in Einkaufszentren, Online-Wahl von zu Hause oder Mehrfachmitgliedschaften in Parteien waren immer wiederkehrende Vorschläge. Viele Experten sind dabei stets davon ausgegangen, daß Möglichkeiten der direkten Teilhabe wie Volksabstimmungen oder Internetbefragungen der Politikverdrossenheit entgegenwirken können. 

Innovationen versprechen mehr als sie halten 

Eine Studie, die das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) für die Otto-Brenner-Stiftung durchgeführt hat, kommt dagegen zu anderen Ergebnissen. „Die neuen elektronischen Medien, insbesondere das E-Voting, haben nicht zu einem Anwachsen der Wahlbeteiligung geführt“, erklärt Autor Wolfgang Merkel. 

Seine Analyse mit dem Titel „Nur schöner Schein? Demokratische Innovationen in Theorie und Praxis“ hat fünf Themenfelder bearbeitet. Zunächst wurde analysiert, ob sich die Demokratie tatsächlich in einer Krise befinde. Dabei kamen die Autoren zu der Erkenntnis, daß es nicht zwangsläufig sein müsse, daß mangelnde Wahlbeteiligung ein Zeichen für eine Abkehr von der Demokratie sei. Es stehe außer Frage, daß das politische System in der Bundesrepublik einige Schwächen aufweise, es sei in seiner Gesamtheit aber absolut stabil. 

Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit haben sich Wolfgang Merkel und seine Mitarbeiter mit den Themen „Digitale Demokratie“, „Volksabstimmungen“, „Deliberation“ und „Mehr Europa“ auseinandergesetzt. Die überraschendste Erkenntnis ist zweifelsohne, daß Internetbefragungen wie der „Wahl-O-Mat“ die Situation eher verschlimmern: „Ein Mehr an Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten führt nicht automatisch zu größerer politischer Kompetenz oder stärkerer Partizipation“, heißt es. Die Hoffnung, daß dank der digitalen Kommunikation bisher unbeteiligte Gruppen und Individuen in die Politik zurückkehren, habe sich bisher nicht erfüllt: „Digitale Partizipationsangebote werden vor allem von Bürgern genutzt, die sich vorher schon für Politik interessiert oder politisch engagiert haben. Das E-Voting hat nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt. Digitale Wahlhilfen erreichen das untere Drittel der Gesellschaft nicht“, sagt Merkel. 

Die Entwicklung der neuen Technologien sei noch zu jung, um zu einem systematischen und empirisch robusten Urteil zu gelangen. „Neue technologische Möglichkeiten öffnen noch keine neuen demokratischen Sphären“, erklärt Merkel. Dabei biete das Internet nach seiner Ansicht durchaus Vorteile, zum Beispiel durch neue Formen der Informationsbeschaffung. Allerdings bestehe die Gefahr, daß in den elektronischen Medien Information und Meinungsbildung stärker miteinander verschmelzen als in den klassischen. Manipulation, Desinformation und Shitstorms könnten eine Folge davon sein: „Die Piraten haben allerdings auch demonstriert, wie digitale Niedertracht im Schatten der Anonymität ganze Parteien zerlegen kann.“ Große Potentiale für die Mobilisierung der Bürger zu Demonstrationen oder Online-Petitionen stellen für die Autoren Kommunikationskanäle wie Twitter oder Facebook dar. Doch die könnten in autoritären Regimen mehr Bedeutung erlangen als in demokratischen.

Referenden sprechen nur einen Teil der Wähler an

Das Phänomen, daß bestimmte Bevölkerungskreise mehr partizipieren als andere, zeigt sich nach Ansicht der Autoren auch bei Volksabstimmungen. Als Beispiel werden schwache Teilnahmen an kommunalen Direktwahlen genannt oder bei Bürgerentscheiden: „Volksabstimmungen verstärken die Tendenz zur Überrepräsentation gutsituierter Schichten. Nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern die höheren und mittleren Schichten, die Gebildeten und überproportional viele Männer stimmen typischerweise bei Referenden ab.“  

Auch das Problem sinkender politischer Beteiligung würde durch mehr Volksabstimmungen nicht gelöst. Die Teilnahme an Referenden sei in aller Regel hinter der Beteiligung an allgemeinen Wahlen zurückgeblieben. In der Schweiz oder auch in Kalifornien habe sich zudem gezeigt, daß Volksabstimmungen stets nur eine gewisse Klientel mobilisieren könne. So seien bei Fragen über Steuerpolitik auffallend viele Menschen aus der Mittelschicht zur Wahlurne gegangen: „Der politisch aktive Demos ist dabei mehr als halbiert und hat bei Volksabstimmungen damit eine noch größere soziale Schieflage als bei den nationalen Parlamentswahlen“, heißt es in der Studie. 

Als positiv für die Demokratie wird dagegen das Instrument der Deliberation eingeschätzt. Eine deliberative Demokratie betont öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation und das Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsprozeß. Dieses Instrument gerade der Diskussion und Anhörung könne wichtige Prozesse begleiten und beeinflussen. Beispielhaft hierfür wird die Diskussion um das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 genannt. Allerdings bestehe auch hier die Gefahr, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker „aktivierbar“ seien.

Demokratiepotential der EU wird überschätzt 

Deliberative Verfahren, die in einem „moderierten Prozeß der Beratung auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments setzen, sind vor allem für die Mittelschichten partizipationsfördernd“. Ein Konzept, das solche Diskurse ohne Ausschluß der bildungsfernen Schichten etablieren könnte, sei bisher in den entwickelten kapitalistischen Demokratien der OECD-Welt nicht vorgelegt worden: „Langzeitarbeitslose, ungelernte Arbeiter, Supermarkt-Kassiererinnen verfügen aber in aller Regel nicht über gleiche Argumentationsressourcen wie Anwälte, Richter, Verhandlungsführer in der Wirtschaft oder Professoren.“ 

Aber gerade der Selbstausschluß der ersten Gruppen ist eines der Leiden der gegenwärtigen Demokratien. Für Mitglieder bildungs- und artikulationsstarker Mittelschichten könnten zivilgesellschaftliche Foren durchaus eine Ergänzung oder Alternative zu den traditionellen politischen Organisationen darstellen. Ob die bildungsfernen Schichten durch ausgewählte Moderationsverfahren bei Diskussion besser eingebunden werden könnten, bezweifeln die Autoren. Die Hemmschwelle dieser Kreise, sich öffentlich zu Wort zu melden, sei traditionell sehr hoch. Dort herrsche die Meinung vor, „daß wir ohnehin nichts zu sagen haben“.

Äußerst kritisch gehen die Autoren mit dem Demokratieverständnis innerhalb der Europäischen Union um: „Aus einer demokratietheoretischen Sicht sollte es stärkere Vorbehalte gegen die Abgabe nationaler Souveränitätsrechte an inter- und supranationale Institutionen geben, wenn diese erhebliche Demokratiedefizite aufweisen.“ Dies müsse auch für die EU gelten, unterstreichen die Wissenschaftler und kommen zu dem überaus kritischen Ergebnis: „Das Demokratiepotential des EU-Parlaments wird überschätzt. Nur 43 Prozent der Bürger wählen es, die allerwenigsten wissen, welche Kompetenzen es besitzt und wer ihre Abgeordneten sind.“ Die Wahlen würden mit nationalen Motiven geführt. Räume jenseits des Nationalstaats seien nur bedingt zu demokratisieren. 

Dies sei ohnehin das Problem von supranationalen Institutionen. Aufgrund der immer freier werdenden Märkte sei es künftig schwierig, echte Volksteilhabe zu realisieren. „Kapitalismus kann nicht demokratisch sein und Demokratie nicht kapitalistisch“, sagt Wolfgang Merkel als Fazit. Die Nationalstaaten müßten in der Lage sein, den rechtlichen Rahmen für Steuern und Löhne festzulegen und den Menschen so das Gefühl zu geben, daß sie mitentscheiden könnten. Zusammenfassend stellen die Autoren fest, daß die repräsentative Demokratie „nicht in einer generellen Krise“ stecke. Es herrsche vielmehr ein Reformbedürfnis in vielen Bereichen. Entscheidend für die weitere Entwicklung werde sein, ob es gelingen kann, Modernisierungsverlierer wieder für die Demokratie zu gewinnen.