© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Pankraz,
der Tunnelblick und die Barmherzigkeit

Szenen von solcher Wucht und Eindringlichkeit hat man lange nicht mehr gesehen: die Erstürmung des Eurotunnels zwischen Frankreich und England durch afrikanische „Asylbewerber“. Man sieht drahtige schwarze junge Männer, wie sie sich mit der autochthonen Polizei gespenstische Tunnelkämpfe liefern oder wie aufgescheucht in der Finsternis der unterirdischen Riesenröhre verschwinden. Man hört die Klagen biederer Lastwagenfahrer, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Nutzfahrzeuge vor migrantischen Mitfahrern zu schützen. Ein Hieronymus Bosch hätte es nicht besser malen können.

Die bisherige Ikone für die neue Völkerwanderung von Süd nach Nord sah bekanntlich  anders aus: ein süßes schwarzes oder braunes Baby mit ratlosen großen Augen, das nicht begreifen kann, was mit ihm geschieht und warum es nichts zu essen bekommt. Es war der äußerst wirkmächtige Appell an unsere Barmherzigkeit, der alles rationale Kalkül hinwegspülen und bedachtsame Bürger in spontan reagierende Samariter verwandeln sollte, welche nur noch helfen, nur noch  die Not des Augenblicks lindern wollen, ohne im mindesten eventuelle Folgen  und weitere Schmerzen zu bedenken.

Natürlich hat auch ein solcher Appell an unsere spontane Hilfsbereitschaft seinen Sinn und seine spezielle Würde. Dafür steht ja das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wo die hochmögenden, von oben herab vernünftelnden Priester und Leviten gleichgültig am blutüberströmten Mordopfer vorüberziehen, während just den ungebildeten „Restjuden“, den allseits verachteten Samariter das Schicksal des Niedergeschlagenen „jammert“. Spontan beugt er sich zu ihm nieder, verbindet ihn, erquickt ihn mit Öl und Wein. Nicht die Ursachen und näheren Umstände der Wunde kümmern ihn, sondern daß da überhaupt eine Wunde ist.


Einzig in der Spontaneität des Helfens entgehen wir jener Eitelkeit der Seele, die jeden Hilfeakt fast automatisch zur Ausstaffierung der eigenen Innerlichkeit mißbrauchen möchte und von der  Nietzsche so unheimlich genau Zeugnis gibt, wenn er seinen Zarathustra sagen läßt: „Der eine geht zum Nächsten, weil er sich selber sucht, der andre, weil er sich verlieren möchte.“ Ein Kalkül ist also immer dabei. Nur die völlig unkalkulierte, eben spontane Hilfe ist frei von Eigennutz, und einzig die hat das Bibelgleichnis im Auge.

Der Lobpreis der Barmherzigkeit ist keineswegs auf das Christentum beschränkt, er kommt – soweit Pankraz sieht – in allen großen Religionen vor. Im Koran der Muslime ist „Allerbarmer“ der zweite Name Allahs, gleich hinter dem „Allmächtigen“. Eine Äußerung der Barmherzigkeit, nämlich das Geben von Almosen, ist die vierte der fünf  erklärten Säulen des Islam. Im Buddhismus wird die Barmherzigkeit üblicherweise mit dem Mitleid („karuna“) gleichgesetzt, das freilich jeder lebendigen Kreatur zusteht und sich oft weniger gegenüber Mitmenschen entfaltet als gegenüber Tieren und Pflanzen.

Im Westen wird das so nachdrücklich praktizierte Mitleid der Buddhisten mit den Tieren (bei vielerorts beobachtbarer Gleichgültigkeit gegenüber armen Mitmenschen) manchmal als schlichte Heuchelei kritisiert, aber wohl zu Unrecht. Wie schrieb einst Montaigne in seinen „Essays“? „Dem Menschen sind wir Gerechtigkeit schuldig, Milde und Wohlwollen den übrigen lebenden Geschöpfen.“ Will sagen: Menschen sind keineswegs von Natur aus Objekte des Erbarmens, bloße Almosenempfänger, es sind Subjekte, Verantwortungsträger. Was ihnen auf Dauer zusteht, ist nicht Erbärmlichkeit, sondern Gerechtigkeit.

Als im hohen Mittelalter an der Pariser Sorbonne einmal die Feier der Barmherzigkeit zu laut und penetrant zu werden drohte und einige Studenten, indem sie sich auf das Matthäus-Evangelium beriefen, diese Barmherzigkeit schlichtweg zur Generaldevise jeglichen christlichen Handelns erklärten, griff der damalige Rektor der Universität, der hochberühmte Dominikanerbruder Thomas aus Aquin, persönlich ein und ließ einen eigenen Kommentar zu Matthäus aufschreiben und verbreiten. Es war ein Text, den auch heutige Pfaffen und Gutmenschen unbedingt gründlich durcharbeiten sollten.


Thomas’ Kernaussage lautete: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist grausam. Aber Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung.“ Unter Auflösung verstand er sowohl den Übergang des einigen, „katholischen“ Glaubens im Abendland als auch den Untergang jeglichen akzeptablen weltlichen Regiments, Papst und Kaiser gleichermaßen, weiter den Verfall aller wahren Brüderlichkeit im sozialen Bereich und den völligen Verlust der Ehrlichkeit im täglichen Umgang der Menschen miteinander.

„An sich“ (auch das schreibt Thomas) „ist die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, daß es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft; und das gerade ist Sache des Höherstehenden.“ In seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ vor anderthalb Jahren hat Papst Franziskus die Stelle zustimmend zitiert, offenbar ohne hinreichend ins Auge gefaßt zu haben, daß das, was  eben noch höher stand, schnell in den Zustand der puren Erbärmlichkeit abrutschen kann.

Der Blick auf die Ereignisse im Tunnel unter dem Ärmelkanal muß jedenfalls nachdenklich stimmen. Es ist nicht unbedingt zu erkennen, wer dort oben und wer unten ist; die drahtigen, gut genährten Asylbewerber oder die verzweifelten Lastwagenfahrer, die gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Ladungen von mitfahrenden Migranten freizuhalten. Wenn beide schließlich drüben in England anlangen. kommen die Migranten zunächst ins Asylantenheim, bis über ihre Anträge entschieden ist – sie werden’s überleben. 

Die Lastwagenfahrer hingegen wandern vorläufig in den Knast, ihnen drohen hohe Strafen wegen Einfuhr unerlaubter Waren oder Menschenschmuggels. Wenn sie wieder nach Hause kommen, wird ihr Chef sie wahrscheinlich entlassen.