© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Pfadfindertreffen der Hochbegabten
Richard Wagner nah und fern: Die Bühnenfestspiele Erl reisen von Tirol nach China
Sebastian Hennig

Für das neue Humboldtforum im Berliner Stadtschloß wird angekündigt, daß wir dort den ethnologischen Artefakten fortan als den Hochkulturen gleichwertigen, wenn nicht gar überlegenen, Kunstwerken gegenübertreten werden. Unterdessen erlebt die europäische Kunst im Nahen, Mittleren und Fernen Osten eine Erstaufführung nach der anderen. Vielleicht wird auf diesem Weg die Globalisierung zur Lösung ihrer eigenen Probleme beitragen.

In Abu Dhabi soll noch in diesem Jahr unter einer riesigen weißen Kuppel eine Dependance des Pariser Louvre eröffnet werden. Das Guggenheim-Museum für moderne Kunst soll 2017 nachfolgen. Doch auch für die musikalische Saat kann noch viel fruchtbares Neuland unter den Pflug genommen werden. Deutschland ist hier noch die unangefochtene Weltmacht und sendet seinen leistungsstarken Motoren nun mit Verzögerung die Werke Richard Wagners hinterdrein.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die türkische Sopranistin Leyla Gencer (1928–2008) zur bedeutendsten Interpretin der Werke von Gaetano Donizetti. Die Gesangslehrerin von Maria Callas, Elvira de Hidalgo, unterrichtete sie am Konservatorium in Ankara. Die Gencer arbeitete als „La Diva Turca“ und „La Regina“ mit Dirigenten wie Muti, Karajan, Serafin und Solti zusammen. Dagegen kamen die großen Partien aus Wagners „Ring“ in der Türkei erst im Jubiläumsjahr 2013 zum erstenmal zur Aufführung.

Wagner-Opern in Tokio, Peking und Shanghai

Auch in den früheren arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches bewegt sich etwas in dieser Richtung. 2007 wurde in Abu Dhabi der erste arabische Wagner-Verband gegründet. Die Dresdner Staatskapelle gastierte unter Christian Thielemann mit einem Wagner-Programm. Im königlichen Opernhaus zu Maskat im Oman wird im September erst Jonas Kaufmann sein Debüt im Mittleren Osten geben, und einige Tage darauf wird Richard Wagners „Lohengrin“ in der Produktion der Wagner-Festspiele Wels (JF 26/14) dort zu erleben sein.

Auch der Ferne Osten öffnete sich nun dem Wagnerschen Musikdrama. Im kommenden Oktober wird unter der Stabführung von Taijiro Iimori das „Rheingold“ in der legendären Inszenierung von Götz Friedrich aus der Deutschen Oper Berlin in Tokio zu erleben sein. Diese Inszenierung wird in Berlin in der nächsten Spielzeit zum letzten Mal aufgeführt. In Peking ereignete sich im Oktober 2013 die chinesische Erstaufführung des Bühnenweihfestspiels „Parsifal“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Chinesischen Nationaloper mit den Salzburger Osterfestspielen und der Semperoper Dresden. Als Dirigent der Aufführung mit der Chinesischen Philharmonie war Peter Schneider vorgesehen. Letztlich wurden die beiden Vorstellungen aber nicht von dem Genelmusikdirektor eines der großen Häuser in Deutschland dirigiert, sondern von dem in Salzburg aufgewachsenen Gustav Kuhn, seit 1997 künstlerischer Leiter eines eigenen Festivals in Erl in Tirol.

Daß der österreichische Dirigent das Befremden seines chinesischen Publikums gegenüber dem Ergebnis des staatlich subventionierten Regietheaters teilte, wurde zum Ausgangspunkt einer Gastspielreise des Tiroler Festivals Erl nach China genommen. So werden in diesem Herbst „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ in Peking zu erleben sein. Und in Shanghai kommt noch einmal das Irrsinns-Projekt des Erler 24-Stunden-Rings (JF 34/14) auf die Bühne. Im Land der riesigen Staudämme und eines staatlich gelenkten Kapitalismus wird dieser dramaturgische Wahnsinnsritt dann der erste Eindruck, den die Chinesen von Wagners Tetralogie bekommen.

Alle Aufmerksamkeit ruht auf Gesang und Musik

Dafür hat man in Erl das seltene Vergnügen, die vier Stücke so zu erleben, wie sie bezeichnet sind, nämlich binnen drei Tagen nebst einem Vorabend. Der erste Zyklus ging vom 23. bis zum 26. Juli, der zweite vom 30. Juli bis 2. August. Zuvor waren „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ in Erl zu erleben.

Das sparsame und elegante Bühnenbild im Passionsspielhaus läßt alle Aufmerksamkeit auf Gesang und Musik ruhen. Hinter der Bühne ist das Orchester aufgestellt. So wie es in Bayreuth unsichtbar in das Inferno des mystischen Abgrundes eingebettet ist, so wölbt es sich hier wie ein Dantescher Läuterungsberg über der Szene. Die Notenständer der Bläser können da in den „Meistersingern“ für die hochgiebeligen Häuser des mittelalterlichen Nürnberg gelten, und die geschwungenen Harfen sind die gotischen Kirchen und Türme der freien Reichsstadt. In der letzten Szene ist die Orchesterlandschaft dann die Volksmenge des Johannisfestes. Solche Bilder ergeben sich aus der glücklichen Improvisation ganz von selbst.

Gustav Kuhns Sängerschmiede für das Festival tagt als Accademia di Montegral in einem mittelalterlichen Konvent nahe Lucca. Neben schönen und starken Stimmen scheint ein Hauptkriterium der Sängerauswahl die Bella Figura auf der Bühne zu sein. Die Kostüme aus der Festival-eigenen Werkstatt von Lenka Radecky heben diese Vorzüge zusätzlich. Durch die Einbeziehung der Erler Kinder in der Statisterie bekommen die Festspiele selbst einen Volksfestcharakter. 

Das Orchester ist staunenswerter Leistung fähig. In einer herrlich geordneten Unordnung wurde die Prügelfuge gegen Ende des zweiten „Meistersinger“-Aktes geboten. Aber das Festival ist ein lebendig Ding, eine Art Pfadfindertreffen der musikalisch Hochbegabten mit Kuhn als Fähnleinführer. Manchmal kommt man auch ab vom Wege. So zerfaserten trotz des besten Vermögens manche Schlußtakte des ersten diesjährigen „Rings“. Auch zeigten sich die Sänger nicht dauerhaft den Anstrengungen gewachsen. So gab Thomas Gazheli zwar einen ungetrübten Wanderer im „Siegfried“ und auch einen eindrucksvollen Alberich im „Rheingold“. Für dessen großen Fluch war er dann aber bereits zu erschöpft.

Bei gleicher Befähigung wirtschaftete der Hans Sachs (Michael Kupfer-Radecky) in den „Meistersingern“ sparsamer. In den ersten zwei Akten hielt er sich zurück, um den großen Atem und die volle Kraft für seinen Schlußmonolog zu behalten. So schön und klar und ungebrochen war das „Ehrt eure deutschen Meister, dann habt ihr gute Geister!“ auf deutschsprachigen Bühnen selten zu vernehmen. Zuvor durften die Paare volkstümlich tanzen, ganz wie es sich schickt. Die Meister wurden von den Erler Kindern auf dem Mittelgang zur Bühne geleitet.

Von geradezu fabelhafter Ausdauer waren in den großen Partien allein die Brünnhilden Bettine Kampp und Nancy Weißbach. Eine beglückende Überraschung war der „Walküren“-Wotan Vladimir Baykov. Die Siegfriede schwächelten. Besonders in der „Götterdämmerung“ war George Vincent Humphrey die Stimme schon am Ende des zweiten Aktes vorausgestorben.

Bei alledem hat der Erler „Ring“ einen unwiderlegbaren Charme. Nun werden alle Teile des Bühnenbilds in Container verpackt und über Bremerhaven nach Fernost verschifft. Die Chinesen werden dann im Herbst „Tristan und Isolde“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ zum erstenmal szenisch erleben können.

Die Tiroler Festspiele Erl führen den „Ring des Nibelungen“ im nächsten Jahr vom 14. bis 17. Juli auf. Dann wird es zum erstenmal neben englischen auch deutsche Übertitel geben.

 www.tiroler-festspiele.de