© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Schwache Indizien
MH17: Mehrere Medien waren sich ganz sicher, daß Putin hinter dem Absturz steckte, lagen aber falsch
Billy Six

Stoppt Putin jetzt“, tönte der Spiegel am 28. Juli 2014. Das war gewagt. Denn: Auch ein Jahr nach dem Absturz der holländischen Passagiermaschine MH17 sind die genauen Umstände nach wie vor ungeklärt. 

Für den Spiegel stand der Verursacher damals schon fest. Das vorschnelle Urteil führte zur Mißbilligung durch den Deutschen Presserat. Der Spiegel-Reporter Cordt Schnibben warf seinem Chefredakteur Wolfgang Büchner später vor, sich stets „der Cover-Gestaltung des Heftes nur ein Viertelstündchen gewidmet“ zu haben. Durch diese nachlässige Haltung habe er die Rüge mitverursacht. 

Der Spiegel reagierte unorthodox. In Zusammenarbeit mit Correctiv, dem nach eigener Aussage „ersten gemeinnützigen Recherchebüro im deutschsprachigen Raum“, suchte der Verlag in einem Befreiungsschlag herauszufinden, „wer warum schoß“. Im Januar 2015 wurden die Ergebnisse in Multimedia-Form und bei Spiegel TV präsentiert: Es sei eine Buk-Rakete der regulären russischen Armee gewesen – abgefeuert aus dem ostukrainischen Dorf Puschkinskij. 

Einige Fakten aus der Story sind plausibel: so die Details zu den Buk-Fahrzeugen, den mobilen russischen Abschußrampen. Auch die Information über Flüge über der Absturzstelle kurz vor dem Unglück. Von den glasklaren Beweisen für eine Täterschaft der Russen wird jedoch nach wochenlanger Gegenrecherche wenig übrigbleiben.

Recherche an der Unglücksstelle bei Lugansk

Es ist ein kalter 18. Januar. Puschkinskij liegt nördlich von Snischnoja zwischen Donezk und Lugansk. Die Aufseherin im Bahnhäuschen erinnert sich an einen „unsympathischen Journalisten“ aus Deutschland. Er habe seinen Fahrer geschickt, um sich über das Gelände zu erkundigen. „Ich bin zum Auto gegangen, um zu sehen, wer da ist.“ Beim Reporter handelt es sich um Marcus Bensmann, einen Experten für „Demokratie-Defizite“ im postsowjetischen Raum. Er ist der einzige, der behauptet, daß die Russen hier eine Boden-Luft-Rakete abgeschossen hätten. Seine Zeugen sind anonym. Das angeblich aufgezeichnete Gespräch mit dem „Kronzeugen“ wurde in der Veröffentlichung von einem Schauspieler übersprochen – Quellenschutz. Das Originalband darf auch bei persönlicher Vorsprache nicht angehört werden. Bensmann forderte Kritiker auf, selbst hinzufahren. 

Gesagt, getan. Bei einer stundenlangen Begehung der Siedlung sind 14 Augenzeugen anzutreffen. Sie berichten übereinstimmend, keine Buk-Rakete gesehen zu haben. Auf ähnliche Weise schildern sie eine große Explosion am Himmel und die Rauchsäule, die vom Absturzort in Grabowo aufgestiegen sei. Einige beschreiben gar einen Kampfjet. Kritische Privatermittler um den niederländischen Blogger Max van der Werff (52) haben von einem Bewohner einer Plattenbau-Siedlung von Snischnoja (48.000 Einwohner) zwei Fotos zugeschickt bekommen, die den Rauch über der Absturzstelle zeigen – unmittelbar nach dem Aufprall. Der Blick der Linse weist in Richtung Puschkinskij – ohne daß der Rauchstreifen einer Buk-Rakete zu erkennen wäre. „Die steht aber bis zu zehn Minuten am Himmel“, erläutert dazu NVA-Oberst a.D. Bernd Biedermann auf JF-Nachfrage. „Bei einem Abschuß wackelt die Erde, der ohrenbetäubende Lärm ist zehn Kilometer weit zu hören“, so Biedermann. Snischnoja und Puschkinskij liegen nicht mal einen Kilometer auseinander. 

Konfrontiert mit Biedermanns Aussagen spricht Bensmann salopp von „Scheiß“ und einer positiven DDR-Voreingenommenheit gegenüber Rußland. Der Correctiv-Reporter ist unangenehm berührt über das unangekündigte Treffen am 15. April im Korridor seines modern eingerichteten Büros in Berlin-Mitte. 30 Minuten Zeit nimmt er sich trotzdem, bevor er das Gespräch abrupt abbricht. Mehrere Nachfragen hat Correctiv ignoriert oder unzureichend beantwortet. 

Kein Interesse an militärischen Details

Auch die nach seinen Einnahmequellen. Angeblich wird das „Bürger-journalismus“-Projekt wie Krautreporter durch Crowdfunding finanziert. Allerdings hat Correctiv einen viel niedrigeren Bekanntheitsgrad. Gibt es wirklich genug Leute, die „Recherchen für die Gesellschaft“, wie Correktiv verspricht, durch Spenden unterstützen?  Selbst die von Correctiv zitierten „Militärexperten“ bleiben anonym. Bis auf einen: Harry Horlings, Flugtest-Experte und ehemaliger Kampfpilot aus den Niederlanden. Seine Aussage soll belegen: Es kann kein ukrainisches Kampflugzeug gewesen sein.

Die Buk kann nicht zurückgebracht worden sein

Horlings erklärt gegenüber der JF jedoch schriftlich, nie von Correctiv kontaktiert worden zu sein – er habe nur einmal mit dem Deutschlandfunk telefoniert. Er sieht sich durch Correctiv falsch wiedergegeben. Die Aussage, ein Kampfflugzeug könne MH17 nicht abgeschossen haben, weil es dann automatisch durch den russischen Luftraum hätte fliegen müssen, habe er nie getroffen. Mehr noch: Der Correctiv-Text sei inhaltlich „nicht korrekt“. Ein Kampfjet könne problemlos in einem Radius von zwei Kilometern wenden. Die russische Grenze ist jedoch 40 Kilometer entfernt. Darüber hinaus sei er, anders als von Bensmann geschrieben, „kein Luftkampfexperte“. 

Correctiv behauptet weiter, die Buk sei von den „russischen“ Truppen hastig in die „Heimat“ zurückgebracht worden – über die Autobahn N21. Das Problem: Die entsprechende Zufahrt nach Lugansk war damals abgeschnitten, da ukrainische Truppen einen Korridor zum belagerten Flughafen gebildet hatten. Für ihre Fahrt hätte mehrfach die Front überquert werden müssen. 

Die Blogger um Max van der Werff haben auf 53 Seiten weitere Widersprüche im Correctiv-Text aufgelistet: „Google-Earth“-Bilder vom 20. Juli 2014 zeigten, daß weder der angeblich verheerende Brand des „Buk-Abschusses“ noch die Kettenspuren im Feld von Puschkinskij zu sehen seien. Auch die ungekürzte „Kronzeugenaussage“ offenbare Widersprüche: So werde beispielsweise aus der „gesehenen“ Rakete eine „gehörte“. Die vermeintliche Abschußrampe auf dem Feld sei am Ende von einem Freund „in der Stadt“, also Snischnoja, nicht Puschkinskij, gesehen worden. Bensmann ordne Sätze im Hauptartikel geschickt aneinander, so die Analyse.   

Auch Satellitenbilder widersprechen Correctiv

Bereits im Januar attestierte Gunnar Jeschke, ausweislich früher als NVA-Offizier bei der Luftabwehr, im Blog des Freitag: „Die Behauptung von Correctiv, es gäbe irgendeine Beweiskette, trifft nicht zu. Präsentiert wird ein Gemisch aus offensichtlichen Falschaussagen, Halbwahrheiten, schwachen Indizien und angeblichen Zeugenaussagen, die sich nicht gegenrecherchieren lassen. Auf lange bekannte Gegenargumente wird nicht eingegangen.“ 

In der Drucksache 18/4299 des Deutschen Bundestages heißt es in bezug auf Correctiv: „Die Bundesregierung kann diese Berichterstattung nicht bestätigen.“ Marcus Bensmann, der für seine Arbeit am 18. Juni den „Grimme-Preis“ und am 1. Juli den „Deutsch-Französischen Journalistenpreis“ erhielt, hat seine ganz eigene Philosophie: „Jeder kann sagen und schreiben, was er will – wir sind ja ein freies Land. Das ist der Unterschied zum Rußland, wie es Herr Putin will.“

Correctiv: Flug MH17 – Auf der Suche nach der Wahrheit

 https://mh17.correctiv.org/