© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Der Tod am Juba-Fluß
Deutsche Forschungsgeschichte: Die letzte Afrikaexpedition des Carl Claus von der Decken vor 150 Jahren endete fatal
Thomas Hillenbrand

Zu den heute weniger bekannten, doch trotzdem bedeutenden Afrikaforschern gehört Carl Claus von der Decken. Er wurde 1833 in der Mark Brandenburg geboren. Nach militärischer Ausbildung und Dienst schied er 1860 aus der Armee aus, um seine erste Afrikareise anzutreten. Sie war eher als Jagdreise denn als Expedition geplant.

Der große Saharaforscher Heinrich Barth, der als erster die Gebiete von Sahara und Sahelzone mit der Stadt Agadez und den Niger-Fluß mit den Städten Gao und Timbuktu besucht hatte, machte Decken auf die „Notwendigkeit“ aufmerksam, die kaum bekannten Gebiete Ostafrikas westlich und nordwestlich der Insel Sansibar näher zu erforschen. Barth schlug Decken Reisen nach Ostafrika vor, möglicherweise gebe es einen Weg, von der Küste her westwärts in unbekannte Gebiete vorzudringen.

Decken reiste zunächst nach Sansibar, um von dort aus mit seinen umfangreichen finanziellen Möglichkeiten den Hamburger Ostafrikaforscher Albrecht Roscher (1836–1860) zu treffen und zu begleiten. Doch Roscher wurde während Deckens Sansibarreise im Gebiet des Malawisees ermordet. Nachdem das tragische Ende des Reisenden bekanntgeworden war, plante Decken, den noch unerforschten Kilimandscharo zu besteigen. Als europäischer Entdecker des Kilimandscharo gilt der Missionar Rebmann aus Kornwestheim bei Stuttgart, er hatte das Kilimandscharo-Gebiet seit 1848 dreimal aufgesucht und den Berg in einigen mehr äußerlichen Aspekten beschrieben.

Im Oktober 1861 gelangte Decken mit dem Geologen Richard Thornton trotz schwieriger Bedingungen bis zur Höhe von 2.500 Metern, im Folgejahr erreichte er sogar 4.300 Meter. Otto Kersten, der spätere Herausgeber von Deckens Aufzeichnungen und Tagebüchern, begleitete ihn dabei. Noch heute verweist die Namensgebung des Decken-Gletschers und des benachbarten Kersten-Gletschers auf dem Kibo auf die beiden Forscher. Decken beschrieb als erster auch den Mount Meru, den er aus großer Entfernung sah.

Keine Gewaltanwendung gegenüber Einheimischen

Deckens Versuch, weiter nördlich und östlich in unerforschte Landschaften zu dringen, scheiterte am Widerstand der Massai. Ein Wesenszug des Forschers war, im Falle von Ablehnung und starken Widerständen nicht zu insistieren und niemals Gewalt anzuwenden. Deshalb bereiste Decken 1862 und 1863 zunächst die Küste des Indischen Ozeans, zuerst nach Lamu, dann  zu den Komoren und Seychellen.

Im August 1863 wieder nach Deutschland zurückgekehrt, begann Decken sogleich mit Vorbereitungen für eine aufwendige Forschungsreise in das Innere Ostafrikas. Dessen Küstenregionen waren durch Seefahrer zwar seit langem bekannt. Die Mündung eines großen Flusses, des Juba, ließ auf die Möglichkeit eines Zugangs in weiter westlich gelegene Gebiete schließen. Das Hinterland hatte jedoch noch kein westlicher Reisender betreten. Sollte es nicht möglich sein, auf diesem Fluß auf verhältnismäßig sichere Weise in das Innere Ostafrikas zu gelangen?

Decken ließ bei einer Hamburger Werft ein Dampfschiff von 37 Metern Länge für Küsten- und Flußfahrt konstruieren. Das eiserne Raddampfschiff, – nach dem hannoverschen Adelsgeschlecht „Welf“ genannt – wurde auf der Werft nur provisorisch zusammengesetzt, man versandte danach sogleich die sorgfältig numerierten Einzelteile auf einer Segelbark nach Sansibar. Auch an ein kleines Schraubenboot dachte Decken, es erhielt den Namen „Passepartout“ – „um weiter zu dringen, falls der größere Dampfer auf dem unerforschten Juba-Fluß versagte“.

Neun junge und belastungsfähige europäische Mitreisende, darunter der Arzt Linck, der Kunstmaler Trenn, der österreichische Kapitän von Schikh, die Maschinisten Kanter und Hitzmann und mehrere Handwerker, sollten der Expedition zum Erfolg verhelfen. Ende des Jahres 1864 erreichten die Einzelteile der beiden Dampfer Sansibar, wo umgehend mit dem Zusammenbau begonnen wurde. Mit dem kleinen, leicht komplettierbaren Dampfboot unternahm der Expeditionsleiter in dieser Zeit eine kurze Forschungsreise auf dem Tana-Fluß im heutigen Kenia.

Das große Abenteuer begann am 15. Juni 1865. Die Probefahrten des Dampfers „Welf“ waren nach anfänglichen Problemen befriedigend ausgefallen. Durch die großen Vorräte an Lebensmitteln und Heizmaterial lag der Dampfer tief im Wasser. Zunächst von einer französischen Fregatte begleitet, geriet die Expedition bald in einen schweren Sturm, der das leicht gebaute Schiff bis an seine Grenzen belastete.

Noch kam man ohne Unfall davon, doch bereits einige Tage später wendete sich das Schicksal. Auf einem Landausflug infizierte sich die Mannschaft mit Cholera; wenig später starben mehrere einheimische Teilnehmer an der nicht behandelbaren Krankheit. Auch Decken erkrankte lebensbedrohlich, erholte sich aber dann recht schnell.

Nach langer Küstenfahrt mit etlichen Aufenthalten wurde am 24. Juli 1865 Kismayo unweit der Juba-Mündung erreicht. In der folgenden Nacht riß das Ankertau, und der „Welf“ wurde mit Gewalt auf den Strand geworfen. Der starken Brandung ausgesetzt, brachen Spanten und Träger, auch die Seitenräder wurden verbogen. Es gelang indessen, den Dampfer in ununterbrochener Arbeit im letzten Augenblick vor Eintritt der neuen Flut wieder flottzumachen. Für die Seefahrt war das Schiff zwar nicht mehr zu gebrauchen, wohl aber noch für die folgende Flußfahrt. Nachdem die nötigsten Ausbesserungen abgeschlossen waren, wagte man die Einfahrt in die Mündung des Juba. Hier ereilte die Expedition ein weiteres Unglück, es forderte das Leben des Maschinisten Hitzmann, der mit dem Dampfboot „Passepartout“ auf die offene See hinausgetrieben wurde und in den Wellen des Indischen Ozeans versank.

„Frühlingsluft erfüllte die Herzen aller, als endlich am 15. August die Fahrt stromaufwärts begann“, so beschreibt Deckens Tagebuch Stimmung und Erwartungen am Anfang der Flußfahrt, die zum Teil entlang der Äquatorlinie führte. Doch die Fahrt auf dem stark mäandernden Fluß erforderte große Anstrengungen und erbrachte ungeahnte Schwierigkeiten, auch wenn diese zunächst immer wieder überwunden werden konnten. 

Oft fuhr das Schiff auf Sandbänke auf. Um wieder freizukommen, mußte mehrere Male die gesamte Ladung gelöscht und dann mühevoll wieder eingeladen werden. Die Besatzung war tags glühender Hitze, nachts Myriaden von stechenden Mosquitos ausgesetzt. Reparaturen und die mangelnde Versorgung mit Proviant taten ein übriges. Doch allen Belastungen zum Trotz gelangte die Expedition in wochenlanger Fahrt langsam flußaufwärts. 

Exakte Messungen und Kartierungen wurden vom Schiff aus angefertigt. Das genaue Tagebuch des Expeditionsleiters erwähnt oftmals Dörfer mit Pflanzungen und bebautem Land, je weiter man die Küste hinter sich ließ. Diese Landschaft enttäuschte den Maler Trenn, hatte er doch Urwald oder zumindest savannenartige und tierreiche Ebenen erwartet. Antilopen, viele Flußpferde und unzählige Krokodile wurden beobachtet. Doch immer wieder kam es zu kürzeren und längeren Aufenthalten, es mußten die wichtigsten Dinge eingehandelt, gejagt oder Holz für die Feuerung des Dampfkessels geschlagen werden. Die noch vorhandene Kohle sollte nur in schwierigen Abschnitten für höheren Dampfdruck sorgen.

Aus dem Expeditionsbericht ist zu ersehen, daß Decken soweit wie möglich mit dem Schiff ins Landesinnere weiterkommen wollte, um sich dann auf dem Landweg über Abessinien oder Ägypten weiter nordwärts zu wenden. Nach etwa 750 Kilometern flußaufwärts wurde am 20. September 1865 die Stadt Baardheere erreicht. Dort wurden die Reisenden unfreundlich aufgenommen. Verhandlungen über den Verkauf von Ziegen und Rindern zogen sich hin. Die Atmosphäre von Stagnation und Ungewißheit belastete alle Teilnehmer, ungeduldig wurde die Weiterfahrt erwartet.

Nach einigem Hin und Her konnte man zumindest die nötigsten Lebensmittel erhandeln, der Weiterfahrt schien nichts mehr im Wege zu stehen. Keine 15 Seemeilen oberhalb der Stadt teilte sich der Fluß in zwei Arme, der linke Arm war offenkundig zu seicht und zu schmal zum Befahren. Lotungen des rechten Flußarmes ergaben eine vielleicht gerade noch ausreichende Tiefe, doch wegen der hohen Strömungsgeschwindigkeit war der Versuch hindurchzufahren ein gewagtes Spiel. Mißlang er, würde das Schiff vermutlich zu einem unbrauchbaren Wrack.

Schicksal von der Deckens ist bis heute nicht geklärt

Da sich hinter den Stromschnellen tiefes und ruhiges Fahrwasser vorfand, wagte man nach langen Überlegungen den Versuch. Der Dampfkessel wurde mit der verbliebenen Kohle auf höchsten Druck geheizt, und das Schiff kam zunächst langsam gegen die Strömung an, saß dann jedoch mit einem Ruck fest. Spitze Steine hatten die dünne Eisenbeplankung durchbohrt. Bemühungen, die Lecks abzudichten und den Dampfer wieder flottzumachen, waren letztlich erfolglos.

Trotz des neuerlichen großen Fehlschlags schien die Expedition noch nicht verloren, immerhin war man ein erhebliches Stück weit in unerforschtes Gebiet vorgedrungen. Der Expeditionsleiter ließ ein Uferlager einrichten und begab sich mit dem Arzt Linck zu Fuß zurück nach Baardheere, um weitere Lebensmittel für den nun bevorstehenden anstrengenden Fußmarsch einzuhandeln. Niemand hat die beiden jedoch wiedergesehen, wahrscheinlich wurden sie bereits am folgenden Tag umgebracht.

Am Morgen des 30. September 1865 wurde das Uferlager überfallen. Lanzenstiche räuberischer Somali töteten den Maler Trenn und den Maschinenmeister Kanter. Da eine Wiederholung des Überfalls zu befürchten war, entschlossen sich die Überlebenden im verbliebenen Boot zur Flucht. In ununterbrochener Fahrt erreichten sie in wenigen Tagen die Flußmündung. Die Aufzeichnungen Deckens mit den wertvollen kartographischen Vermessungen konnten gerettet werden. Es gelang den Überlebenden, an Bord einer Dhau von der Juba-Mündung aus südwärts bis nach Sansibar zu kommen. Im April 1866 trafen sie schließlich in Hamburg ein.

Nachforschungen nach dem genauen Schicksal Deckens und des Arztes führten nicht viel weiter, ergaben aber Gewißheit über den Tod des Expeditionsleiters und seines Begleiters. Das Wrack des Dampfers „Welf“ wurde 1892 durch den britischen Reisenden Dundas wenig verändert aufgefunden. 

Es ist möglich, daß Reste davon noch heute im Juba Fluß liegen. Der Vergleich der kartographischen Aufnahmen des Flusses mit Google Earth zeigt, wie sorgfältig und genau die Messungen vom Schiff aus vorgenommen wurden. Im Landesmuseum Hannover hat sich ein großes zeitgenössisches Modell des Dampfers „Welf“ erhalten, es wurde kürzlich restauriert. 

Der Verfasser dieses Berichts machte 1990/91 den Versuch, die Expedition von Deckens nachzuerfahren und zu dokumentieren. Grundlage waren das Kartenmaterial, Zeichnungen und die genauen Beschreibungen der Expedition durch Otto Kerstens Buch. Leider wurde dieses Vorhaben durch die inzwischen eingetretene Revolution Somalias und die bis heute andauernden Wirren unmöglich.

Foto: Das Dampfboot „Welf“ und das Beiboot „Passepartout“ der Juba-Expedition: Die letzten „weißen Flecken“ Afrikas erkunden