© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/15 / 07. August 2015

Der Flaneur
Da war sie sprachlos
Ronald Gläser

Die Neun gehört zu den berüchtigten U-Bahnlinien:

 Sieben, Acht und eben Neun. Die drei Linien laufen in einem Dreieck um das Stadtzentrum. Nachts sind die normalen Fahrgäste oft in der Minderzahl. Tagsüber hingegen nicht.

An diesem Dienstagnachmittag ist die Bahn voll mit lärmenden Berufsschülern, die auf dem Heimweg sind. An einem Eingang ein Mann mit seinem Fahrrad, am anderen eine Frau mit ihrem Kinderwagen. Zwischen den Jugendlichen sitzt eine junge Frau über ihren Unterlagen. Brünett, lange Haare. Sie hat einen Ordner auf dem Schoß. Mal tippt sie etwas in ihr Smartphone, dann schaut sie wieder in ihre Papiere. Sie ignoriert das Getratsche der Banknachbarn so gut sie kann. Schaut auf, schaut wieder in ihre Papiere.

Dann macht er kehrt, greift das Handy, das sie locker in der Hand hält, und sprintet los.

Der Waggon rumpelt in den U-Bahnhof Turmstraße. Die Türen gehen auf. Ein Junge, kaum volljährig, mit nach oben toupierten, schwarzgefärbten Haaren steht auf und geht zum Ausgang. Er mustert die anderen Fahrgäste. Am Ausgang macht er kehrt. Als er eine Armlänge vor der jungen Frau steht, greift er das Handy, das sie locker in der Hand hält und sprintet los. Die Frau schaut ihm entgeistert hinterher. Es sind einige Passanten auf dem Bahnsteig, die ihn aufhalten könnten. Wenn sie ihn nur rufen würden – den ältesten Satz der Welt. Haltet den Dieb. Doch sie sitzt nur mit offenem Mund da und schaut zu, wie sich die Türen automatisch schließen. Der Täter entkommt. 

Erst jetzt verstehen die anderen Fahrgäste, was vor ihren Augen passiert ist. Daß das kein Scherz unter Jugendlichen war. Völlig verdattert sagt sie jetzt: „Der hat mir mein Handy geklaut.“

An der nächsten Station, Birkenstraße, steigt die junge Frau aus. Eine andere Frau leiht ihr ein Handy, um die Karte zu sperren oder die Polizei anzurufen. Wieder schließen sich die Waggontüren. Der Zug ruckelt weiter. Die anderen Fahrgäste haben heute abend etwas zu Hause zu erzählen.