© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/15 / 14. August 2015

Pankraz,
der Mittelstand und die wahre Intuition

Zähe Strandlektüre: Pankraz hat sich heuer die Papiere des 21. „BDI/PwC-Mittelstandspanels“ (was für ein grauenhaftes Wort!) mit in den Urlaub genommen und erhofft sich von ihrem Studium verläßliche Aufschlüsse über die wirtschaftliche Situation des industriellen deutschen Mittelstands. Schließlich ist dieser Mittelstand nach allgemeiner  Auskunft das Rückgrat und der wichtigste Motor der deutschen Wirtschaft; von seinem Blühen und Gedeihen hängt gewissermaßen das Schicksal der ganzen Nation ab.

Die Wirtschaftsteile der Zeitungen wimmeln zur Zeit geradezu von Beiträgen über den aktuellen Zustand des industriellen deutschen Mittelstands, und sie sind widersprüchlich und auf jeden Fall beunruhigend. Einerseits wird einem in fast schon panischen Tonlagen beigebracht, daß die Lage aufs höchste problematisch sei und böse Folgen ins Haus stünden. Der hiesige Mittelstand habe die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte, nämlich die Digitalisierung, regelrecht verschlafen und gerate nun weltweit ins Hintertreffen. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei akut gefährdet.

Andererseits bringt das Mittelstandspanel fleißig Zahlen, die das Gegenteil bezeugen sollen. Jeder dritte Betrieb, heißt es, nutze bereits digitale Technologien für Vertrieb und Absatz. Über vier Prozent des gesamten Investitionsvolumens der Branche würden schon für den Ausbau digitaler Techniken eingesetzt: „Cloud Computing“, „Industrie 4.0“, „Big Data“… Allerdings, so Peter Bartels von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC, verfüge im Augenblick erst jedes fünfte Unternehmen über einen digitalisierten Planbereich. Gerade kleinere Unternehmen seien noch sehr zurückhaltend bei diesem Thema.


Aber ist dieses Zögern, fragt Pankraz dagegen, nicht eine gute Nachricht? Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Unter „Digitalisierung im Plan- und Produktionsbereich“ verstehen nur allzu viele Manager mittlerweile ja nur noch die Abtötung beziehungsweise Stillegung der menschlichen Intuitionskaft; man überläßt das

Ideenhaben den von Computern mechanisch erzeugten Algorithmen, und die spucken letztlich nur Meterware aus, keine echte Qualität. Ob man damit auf die Dauer Gewinn machen kann, ist doch ziemlich unwahrscheinlich.

Der deutsche Mittelstand jedenfalls verdankte seine Erfolge und seinen Ruf in erster Linie seinem unermüdlichen Engagement für Qualität und die Sonderwünsche seiner Kunden. Es kam ihm in erster und auch noch in zweiter Linie auf Einfallsreichtum und das Gefühl für Feinheiten und Individualität an; nachfolgende Massenproduktion ergab  sich dann, gleichsam im dritten Rang, wie von selbst. Das Schlüsselwort in seinen Planungsabteilungen und bei seinen „Brainstormings“ hieß deshalb „Intuition“, es bezeichnete das genaue Gegenteil von bloßem Ausrechnen und simpler Kalkulation.

Sicherlich, auch der industrielle Mittelstand hierzulande betreibt in erster Linie hartes Geschäft. Doch ihm wohnte bisher, vermutet Pankraz, stets auch ein Hauch von Idealismus inne, vertracktes Kulturerbe der deutschen Klassik und der entsprechenden Philosophie von Kant bis Husserl. Die These ist nicht abwegig, daß hierzulande zumindest zeitweise  ein richtiger idealistischer Gleichklang herrschte zwischen Theorie und Praxis, nämlich zwischen professoralem und industriellem Mittelstand.

Man lese etwa nach, wie der stocknüchterne Kant, nachdem er mit unermüdlichem Fleiß und nie nachlassendem Scharfsinn „bewiesen“ hat, daß menschliche Erkenntnis nur aus „sinnlich-rezeptiver Anschauung“ und streng logischen Denkkategorien entstehen könne, bei der anschließenden  Erörterung des „Dings an sich“ plötzlich die Möglichkeit eines „intuitiven Verstandes“ einräumt, einer sogenannten „intellektuellen Anschauung“‚ die er am liebsten für Gott allein reserviert sehen möchte. Etwas von dieser Intuition mag durchaus auch bei einem mittelständischen Brainstorming etwa in einem feinmechanisch-optischen Unternehmen lebendig sein.


Vielleicht ist es dort sogar lebendig in den Laboratorien und Werkstätten, und das ermöglicht dann ein innerbetriebliches Klima, in dem es ohne Kompetenzgerangel, also relativ leicht, möglich ist, die Sachen selbst sprechen zu lassen,  „naiv“ und grundsätzlich zu fragen und bestimmte Versuchsanordnungen nicht allzusehr zu strapazieren. Wie viele Nobelpreise verdanken sich doch der Tatsache, daß der Forscher eines Tages Versuchsanordnung Versuchsanordnung sein ließ und sich noch einmal „ganz dumm“ stellte, um so endlich die richtige Eingangsfrage formulieren zu können! Genau das nennt man Intuition. 

Falsch wäre es allerdings, blindlings demjenigen zu vertrauen, der einige Male intuitiv das Richtige gesagt hat, und ihn nun gleich für ein Genie der Intuition zu halten. Genies der Intuition sind sehr selten. Geniale Exzentriker (Modell Erwin Schrödinger) können sogar ziemliche Verwirrung anrichten, da in ihrem Werk neben dem berühmten (Zufalls-)Treffer oftmals ein Wust von völlig unbrauchbaren Einfällen steht. Sie können damit geradezu verhängnisvolle Wirkungen entfalten, denn ihr Ruhm zwingt Kollegenschaften und interessierte Öffentlichkeit, den Wust unentwegt zu sichten und wiederzukäuen, wodurch in der Regel viel überflüssige Arbeit und ein ausgesprochen anti-intuitives Klima entsteht. 

Eine komplette Theorie der Intuition kann es nicht geben, sie widerspräche frontal dem, worum es in dem Wort geht. Viel wäre schon gewonnen, wenn es gelänge, gewisse angemaßte Berufskreative und allzu sehr auf Durchschnitt versessene Algorithmen-Verehrer dauerhaft in ihre Schranken zu weisen. Was aber den industriellen deutschen Mittelstand betrifft, so wäre dem zu raten, die Kirche unbedingt im Dorf zu lassen. Er soll ruhig digitale Rückstände aufholen, doch wäre es verhängnisvoll, wenn er dafür seine angestammte Intuitionskraft und Feinarbeit preisgäbe.